Auf einmal ertönten Weihnachts­lieder – gesungen in vielen Sprachen

Martha Fuchs als Oberbürgermeisterin der Stadt Braunschweig. Foto: Gedenkstätte Friedenskappelle

Erinne­rungen von Martha Fuchs (1892–1966) an das Weihnachts­fest 1944 im Konzen­tra­ti­ons­lager Ravens­brück.

Vor einigen Jahren habe ich bei Studien im Stadt­ar­chiv Braun­schweig eine Weihnachts­ge­schichte gefunden, die mich tief berührt hat. Es war eine persön­liche Notiz gewesen, die überlie­fert, dass auch in Zeiten der existen­zi­ellen Not, des persön­li­chen Elends und des menschen­ver­ach­tenden Terrors einer ideolo­gisch begrün­deten Vernich­tungs­stra­tegie mensch­li­chen Lebens, die Bedeutung des Weihnachts­festes als eines Festes der Liebe, des Friedens und der weltum­span­nenden Völker­ver­bun­den­heit ungebro­chen lebendig geblieben war.

Frauen im KZ Ravens­brück bei der Arbeit. Foto: Bundes­ar­chiv

Die wahre Bedeutung von Weihnachten

Es handelte sich dabei um eine Erinne­rung der ehema­ligen Braun­schweiger Oberbür­ger­meis­terin und Ehren­bür­gerin Martha Fuchs aus dem KZ Ravens­brück an das Weihnachts­fest vor 78 Jahren. Darin offen­barte sich die wahre Bedeutung von Weihnachten, die uns gelegent­lich verlo­ren­zu­gehen scheint hinter den Gedanken der arbeits­freien Tage, des Schenkens in immer größeren Dimen­sionen. Schon der DDR-Autor Bodo Schulen­burg hatte 1984 in „Es war einmal ein Drache… Eine Weihnachts­ge­schichte“ an dieses Geschehen erinnert.

„Erinne­rung steigt auf an die Zeit, die ich im Konzen­tra­ti­ons­lager verlebte. Ich sehe die Kinder wieder, die dort waren, teils mit ihren Müttern, teils nicht wissend, wo Vater und Mutter ihren Tod fanden. Und die Mütter sehe ich, denen man die Kinder nahm, die nicht wussten, ob sie sie jemals wieder in die Arme schließen würden. Noch immer höre ich die Klagen und sehe die von Gram und Tränen zerfurchten Gesichter“.

Es war eine inter­na­tio­nale Gruppe von Häftlings­frauen, die unter persön­li­chen Entbeh­rungen und Gefahr für das eigene Leben eine Weihnachts­feier für die vielen inhaf­tierten Kinder im KZ organi­sierten. lm Vorfeld verfassten die Frauen ein Stück für ein Puppen­theater. Doch wie sollte man es den Kindern vorführen, doch schnell fand man eine Lösung: Man bastelte aus allen nur denkbaren Stoff- und Papier­resten kleine Puppen­fi­guren. Auch Weihnachts­sym­bole und selbst ein Weihnachts­baum durften nicht fehlen.

Stunden­langes Appell­stehen an Heilig­abend

„Weihnachten nahte! Aus den unmög­lichsten Fetzchen wurden Püppchen gebastelt, die Kinder schnip­pelten und formten aus Papier Sternchen und Figuren. In all dem trost­losen Elend keimte kleine Weihnachts­vor­freude. Heiliger Abend! Der Tag begann wie jeder andere. Morgens um 4 Uhr Wecken, ohne das kleinste Stückchen Brot hinaus in die Dunkel­heit und Kälte, Appell­stehen bis 7 Uhr, auch die Kinder vom 10. Lebens­jahr an mussten die traurigen Stunden abstehen. Dann ging es zur üblichen Arbeit, und nach Schluss der Arbeits­zeit, vielleicht, um uns die Härte der Haft noch fühlbarer werden zu lassen, um 6 Uhr abends wieder zum Appell­stehen. Zwei lange Stunden hungernd und frierend in der Kälte standen die Tausende, Mädchen, Frauen und Kinder. Ein klarer Himmel wölbte sich über unsäg­li­chem Elend, Heimweh und Sehnsucht nach geliebten Menschen. Endlich durften wir zurück in den Block.“

Der nicht belegte Block 22 diente den Inhaf­tierten als „Festraum“ für die tief bewegende Weihnachts­feier mit Auffüh­rung des Theater­stücks „Es war einmal ein Drache“. Zur Begeis­te­rung und Freude der Kinder besiegte der Kasper mit Hilfe seiner Freunde den wilden Drachen und befreite die verzau­berte Prinzessin. Sicher­lich ging mancher Gedanke an diesem Abend nicht nur in die Vergan­gen­heit der eigenen Familie, sondern begriff die Geschichte auch als Hoffnung, dass für die Kinder und alle Menschen in den Konzen­tra­ti­ons­la­gern ein tapferer Kasper mit seinen Freunden kommen und sie befreien möge. Den Kindern machten die Frauen eine besondere Freude auch damit, dass sie sich mit Marme­la­den­brot­schnitt­chen und süßen Getränken stärken konnten und am Ende sogar kleine Geschenke erhielten, ebenfalls selbst gebastelt von den Frauen im Lager:

„Noch nie war ich so ergriffen“

„Wir durften unser Weihnachten feiern. Irgend­eine Frau hatte es verstanden, ein winzig kleines Bäumchen einzu­schmug­geln. Selbst einige Lichter waren aufge­steckt. In den Bettladen hockten wir, nahezu 400 Frauen, eng anein­ander. Geheizt wurde nicht, außerdem waren die meisten Fenster­scheiben zerschlagen. Mit einem Male ertönten Weihnachts­lieder – gesungen in vielen Sprachen, deutsch, polnisch, russisch, italie­nisch, belgisch, hollän­disch, tsche­chisch, ungarisch und jugosla­wisch. So klang die hundert­fache Sehnsucht in den Raum, und jeder fühlte sich in diesem Augen­blick verbunden mit einem Herzen, das irgendwo in der Welt in sorgender Liebe für ihn schlug. Dann sang mit herrli­cher Altstimme eine Polin das Ave Maria, noch nie war ich so ergriffen von diesem Lied, wie am Heiligen Abend 1944 in diesem Raume, der so erfüllt war von unend­li­chem Herzeleid. Lange konnte ich den Schlaf nicht finden, die Gedanken gaben keine Ruhe. Hin und wieder ein leises Schluchzen aus übergroßem Heimweh. Wird das nächste Weihnachten den Frieden auf Erden sehen? Werden wir es noch erleben?“

Fakten

Martha Fuchs (1892–1966) war erste Minis­terin im Nachkriegs­deutsch­land, von 1959 bis 1964 erste und bisher einzige Oberbür­ger­meis­terin Braun­schweigs und Ehren­bür­gerin der Stadt. Geboren am 1. Oktober 1892 in Grubschütz bei Bautzen, war sie für die SPD seit 1925 Mitglied im Rat der Stadt Braun­schweig und 1927 Abgeord­nete des Braun­schwei­gi­schen Landtags. Der Terror der Natio­nal­so­zia­listen beendete vorerst 1933 alle politi­schen Aktivi­täten von Martha Fuchs. Sie wurde als engagierte Sozial­de­mo­kratin von den Nazis verfolgt, bespit­zelt, gequält und musste von August 1944 bis April 1945 die Haft im Konzen­tra­ti­ons­lager erdulden. Im April 1945 gelang ihr gemeinsam mit zwei Jüdinnen die Flucht. Krank, geschwächt, aber mit ungebro­chener politi­scher Willens­kraft nahm sie nach kurzer Erholung und Rückkehr in das zerstörte Braun­schweig ihre politi­schen Aktivi­täten wieder auf.

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