Szene­ma­gazin LIVING in den Bruns­vicen­sien

Schwarz-Weiß-Fotos waren ein Markenzeichen der4 LIVING. Hier das Titelfoto der zweiten Ausgabe 1989. Foto: Screenshot

Als Dokumente der jüngeren Zeitge­schichte der Region sind alle Ausgaben digital über die Univer­si­täts­bi­blio­thek der TU zugäng­lich.

Achtung Zeitfresser! Wer sich darauf einlässt, in den jetzt digital einzu­se­henden Ausgaben des Szene­ma­ga­zins Living aus den Jahren von 1988 bis 1994 zu stöbern, läuft Gefahr, sich darin hoffnungslos zu verlieren und die Zeit zu vergessen, weil das Design so außer­ge­wöhn­lich ist, so viel Inter­es­santes entdeckt werden kann und für Ältere so viele Erinne­rungen ermög­licht werden. Das seiner­zeit von Andreas Grosz gegrün­dete avant­gar­dis­ti­sche Magazin war als Image­trans­por­teur für das Braun­schwei­gi­sche gedacht, sollte die steigende Attrak­ti­vität Braun­schweigs hinsicht­lich Kultur, Freizeit, Konsum und Archi­tektur in der Verbin­dung mit Tradition heraus­strei­chen. Als Dokumente der jüngeren Zeitge­schichte der Region Braun­schweig sind alle fast 40 Ausgaben über die Univer­si­täts­bi­blio­thek der TU jetzt digital abrufbar: https://leopard.tu-braunschweig.de/content/collections/brunsvicensien/borek.xml

Unter Wert geschlagen

Titel­seite aus dem Jahr 1991. Foto: Screen­shot

Initiator und Heraus­geber Andreas Grosz, der als Student nach Braun­schweig gekommen war, erinnert sich in einem von Michael Heinze, damals Mitglied des Redak­ti­ons­teams, geführten Interview an die Anfänge: „Wir fanden, dass sich Braun­schweig vom Image her unter Wert schlug. Dass es hier viel mehr zu entdecken und zu erzählen gab. Zudem sollten ja Beiträge aus anderen Städten und Ländern das Spektrum und die Perspek­tive des Magazins weiten. Zu den Pionieren des Magazins gehörten Peter Loren­schat vom Wohnstudio Extra und Wolfgang Rühle, der in Braun­schweig ein Design­büro betrieb. Mit ihm und Studen­ten­innen und Studenten der HBK Braun­schweig haben wir in vielen Nacht­schichten das Layout-Konzept und die ersten Ausgaben von LIVING erarbeitet. Das war damals noch reine Handar­beit, bei der die späteren Druck­vor­lagen händisch geklebt und bearbeitet wurden. Erst später, Ende der 1980er wurde LIVING Stück für Stück am Apple-Rechner entwi­ckelt und in stunden­langen Übertra­gungs­zeiten per Modem an die Litho-Anstalten und später an die Druckerei versandt.“ Nicht auf den ersten Blick wahrnehmbar sei das kultu­relle und kreative Potential gewesen. LIVING hat es auf dem erstaun­li­chen Format von 370 x 270 Milli­meter sichtbar gemacht.

Pariser Magazin als Vorbild

Vorbild für das Braun­schweiger Magazin sei L’IMAGE aus Paris gewesen. Mit den Machern des großfor­ma­tigen und schwarz-weiß gehal­tenen Magazins habe er bereits länger in Kontakt gestanden, erzählt Grosz. Gleich­wertig zum Text sei von Anbeginn die Fotografie wichtig für Living gewesen. „Unsere Fokus­sie­rung auf Schwarz-Weiß wirkte auf viele Fotografen wie ein Magnet“, nennt Grosz einen Marken­kern der LIVING. Nach den ersten drei Ausgaben, denen man das Selber­ma­chen noch gut angesehen habe, habe die Richard Borek Stiftung Hilfe angeboten, um das Heft profes­sio­neller herstellen und vertreiben zu können. Von Braun­schweig aus habe sich LIVING als Kultur­ma­gazin mit bundes­deut­schem Fokus entwi­ckelt. Dass LIVING jetzt auch dank der Unter­stüt­zung der Richard Borek Stiftung digital im Archiv der Techni­schen Univer­sität zu finden und zu lesen sei, finde er großartig. Dort ist auch das gesamte Interview mit Andreas Grosz zu finden. Die Geschichte der LIVING endete 1994, weil Grosz zum Gründungs­ge­schäfts­führer der Weltaus­stel­lungs­ge­sell­schaft EXPO 2000 Hannover GmbH berufen wurde.

Zukunfts­themen im Fokus

Bis dahin wurden Umwäl­zungs- und Erneue­rungs­pro­zesse in der regio­nalen Kultur­szene in experi­men­teller Weise aufge­griffen. Später erschien es auch eine Nieder­sachsen-Ausgabe. Schwer­punkt­aus­gaben zu Themen wie „Die Zukunft der Arbeit”, „Ökologie und Ökonomie am Ende des 20. Jahrhun­derts“, „Quo Vadis Design”, „Archi­tektur heute: Haupt­stadt Berlin”, „Neue Medien – Neues Denken?”, „Kunst am Ende?” oder „Ideen für Europa” zeigen, wie früh sich das Magazin mit Zukunfts­themen ausein­an­der­setzte und fakten­reiche Inhalte und Diskus­si­ons­bei­träge in künst­le­ri­scher Gestal­tung lieferte.

Tenzer und die Eintracht

In den LIVING-Ausgaben findet sich auch aus heutiger Sicht noch viel Inter­es­santes, das seine Relevanz nicht verlor. Etwa in Ausgabe Nr. 2 aus dem Jahr 1988 unter dem Titel „Ein Mann für alle Fälle“. Es geht um Harald Tenzer, der gerade 80 Jahre alt wurde. „Tenzer sucht und braucht die Heraus­for­de­rung, neue Ziele und Aufgaben, an denen er sich auspro­bieren und entwi­ckeln kann. Ein geregelter 8‑Stunden-Tag ist nichts für ihn. Wer ihn so kennt oder kennen­lernt, den verwun­dert es nicht, dass Harald Tenzer in einer der schwie­rigsten Phasen der Vereins­ge­schichte die Präsi­dent­schaft von Eintracht Braun­schweig übernehmen konnte“, heißt es da. Tenzer war erfolg­rei­cher Unter­nehmer, Ratsherr, Vizeprä­si­dent der Industrie- und Handels­kammer und Erfinder des (Sponsoren-) „Pools 100“, der Eintracht seiner­zeit vor der Insolvenz rettete und bis heute hilft, Profi­fuß­ball in Braun­schweig zu ermög­li­chen.

Nacht­leben an der Oker

Innen­seite einer LIVING-Ausgabe. Foto: Screen­shot

Spannend zu lesen ist der Szene-Test über das „Nacht­leben an der Oker“ in Nr. 2 aus 1990, in dem Disco­theken, heute würde man sagen Clubs, beurteilt wurden. Dem „Jolly Joker“ wurde „Jugend­zen­trum-Ambiente“ attes­tiert, dem „Kiwi“ wurde als „Leukoplast“-Nachfolger die „echte Braun­schweiger Avant­garde“ abgespro­chen und als Etablis­se­ment für 16-jährige Postpopper und Konsum-Kids bezeichnet. Als „konse­quente Alter­na­tive für die Punks und Schwarz­männer“, wurde das Zorn im Saal (Bruch­tor­wall). „Diese Art von Anders­ar­tig­keit ist für einen normal empfin­denden Bürger nicht zu ertragen. Laute Chaos-Musik und wild gebürs­tete Menschen arran­gieren Subkultur“, steht geschrieben.  Und das „Panop­tikum“ (Gieseler) sei für Harley-Fahrer, Späthip­pies und Amüsier­wil­lige, die keinen anderen Laden gefunden hätten, das Richtige. Heute sind das alles ehemalige Kultlo­kale, an die sich sehr viele gerne erinnern.

China und die Autos

In Ausgabe Nr. 4 des Jahres 1992 findet sich ein Interview mit Daniel Goeude­vert, der von 1991 bis 1993 das für den Einkauf zustän­dige Vorstands­mit­glied der Volks­wagen AG war. Thema war die voraus­ge­gan­gene China-Reise Goeude­verts und Grenzen des Wachstums. Er wurde gefragt, ob er sich vorstellen könne, dass in abseh­barer Zeit jeder zweite Chinese ein Auto fahre. Seine Antwort: „Daniel Goeude­vert: Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Das würde 600 Millionen Autos bedeuten und ist nicht zu verkraften, weder von der Infra­struktur noch der Umwelt. Wir haben die Tendenz in der westli­chen Welt, das Thema Wachstum auf uns bezogen zu betrachten: Mit der Erfahrung eines ausge­zehrten Wachstums, wo Ökonomie und Ökologie nicht mehr kompa­tibel sind. Aber wenn man in China ist, versteht man, wie relativ das Thema ‚Grenzen des Wachstums‘” ist und wie nötig hier Wachstum ist Die Chinesen sind da sehr vernünftig. Der zustän­dige Minister hat mir gesagt, wenn wir die 50.000 Bezirke nehmen und jeder Bezirk 100 Autos bestellt, wären das schon fünf Millionen Autos. Die Infra­struktur wird nicht so schnell wachsen können. Die Verkehrs­struktur der histo­risch gewach­senen Innen­städte ist absolut nicht geeignet für eine Automo­bil­ge­sell­schaft.“ Im Jahr 2022 waren übrigens 277 Millionen Autos in China zugelassen.

Besonders gestal­tete Werbe­an­zeigen gehörten auch zu den Beson­der­heiten. Foto: Screen­shot

Die Bedeutung von Kultur

Früh bemerkte die LIVING, dass sogenannte weiche Stand­ort­fak­toren bedeutsam sind für die Gewinnung von Fach- und Führungs­kräften. Längst vorbei seien die Zeiten, als der Zugang zur Kultur, den sogenannten Schön­geis­tigen und einer kleinen Bildungs­min­der­heit vorbe­halten bliebe, schrieb die LIVING in Ausgabe 6 aus dem Jahr 1989: „Der Deutsche Städtetag meldet soeben für 1987 (die Zahlen reichen nicht weiter) allein für die deutschen Museen über 52 Millionen regis­trierte Besucher. Das sind fast zehnmal mehr Inter­es­senten als Zuschauer der 1. Fußball-Bundes­liga in der vergan­genen Spielzeit. Und: Für die Jahrtau­send­wende wird den Museen und Kunst­hallen eine Verdop­pe­lung der Besucher­zahlen prognos­ti­ziert. Kein Wunder, wenn immer mehr Unter­nehmer und Arbeit­nehmer sich bei der Wahl ihres zukünf­tigen Stand­ortes unter anderem vom Freizeit- und Kultur­angebot leiten lassen. Nicht zuletzt deswegen gibt es seit 2013 die Allianz für die Region. Ein weiterer Beleg dafür, dass die LIVING durchaus visionär war…

Mehr unter: https://www.der-loewe.info/ein-experiment-traf-den-braunschweiger-zeitgeist

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