Die „unehr­li­chen“ Handwerk­s­tä­tig­keiten in der Weber­straße

Weberstraße 47, Südfassade. Foto: Nieders. Landesamt für Denkmalpflege

Verschwun­dene Kostbar­keiten, Teil 25: Die Fachwerk­häuser der Neustadt fielen in Gänze in Schutt und Asche.

Seit Jahrhun­derten schließt der wuchtige Westbau von St. Andreas die Weber­straße im einstigen Weichbild Neustadt wirkungs­voll ab. Der heute mit fast 94 Metern höchste Kirchturm Braun­schweigs war ursprüng­lich noch einmal deutlich höher: Die 1544 vollendete Turmspitze schob sich 122 Meter hoch in den Himmel über der Löwen­stadt, während der Nordturm unvoll­endet blieb. Die heutige glocken­för­mige Turmspitze von 1742 zeigt sich in barocken Formen und konnte 1955 nach ihrer Zerstö­rung im Zweiten Weltkrieg neu errichtet werden.

Weber­straße mit St. Andreas, um 1930. Foto: aus: Paul Jonas Meier, Braun­schweig, 1931

Nur der Grundriss blieb übrig

Mehr noch als St. Andreas wurde die histo­ri­sche Neustadt von den Verwüs­tungen des Krieges getroffen. Das fast durchweg von Fachwerk­be­bauung geprägte Quartier fiel in Gänze dem Feuer­sturm des 15. Oktober 1944 zum Opfer. Von dem typischen „Straßen­d­rei­strahl“ – den vom Radeklint ausge­henden Straßen­zügen Beckenwerker‑, Weber- und Lange Straße – blieb nur der Grundriss übrig – und dieser wurde während des Wieder­auf­baus verändert. Die drei Straßen bildeten mit Wollmarkt und Alte Waage das Grund­ge­rüst der mittel­al­ter­li­chen Braun­schweiger Teilstadt. Diese entstand nach der Anlage von Altstadt und Hagen ab 1200 planmäßig in dem noch „offenen“ Sektor der städti­schen Gesamt­be­fes­ti­gung. Sie wurde 1231 erstmals als „nova civitas in Brunes­wich“ erwähnt. Im westli­chen Teil der Neustadt dominierte das Textil- und Metall­hand­werk, Straßen­namen wie Becken­wer­ker­straße, Kupfert­wete und eben Weber­straße zeugen bis heute davon. Die führenden Kaufmanns‑, Rats- und Patri­zi­er­fa­mi­lien dieses Weich­bildes wohnten in der Reichs­straße.

In der Weber­straße waren die Tuchma­cher – Leine­weber und Laken­ma­cher – angesie­delt. Dies erinnert an die starke Stellung des mittel­al­ter­li­chen Braun­schweigs als Zentrum der Textil­her­stel­lung und des Tuchhan­dels. Das Gewand­haus der Altstadt, ein Gebäude für den Handel und die Lagerung von Textil­waren, war und ist der größte mittel­al­ter­liche Profanbau der Stadt. Übrigens gehörte die Leine­we­berei seiner­zeit zu den „unehr­li­chen“ Handwerk­s­tä­tig­keiten. Sie war in der Weber­straße seit 1342 nachweisbar.

Blick von St. Andreas auf die Weber­straße. Foto: aus: Hermann Flesche, Brunswiek, 1932

Lebhaftes Straßen­bild

Die Weber­straße war die mittlere der drei von Osten auf dem Radeklint einmün­denden Straßen­züge. In fast gerader Linie führte sie auf den Westbau der Andre­as­kirche. Leichte Verschrän­kungen in den Baufluchten ließen das Straßen­bild jedoch sehr lebhaft erscheinen. Die Bebauung bestand bis zur Zerstö­rung fast vollständig aus Fachwerk­häu­sern. Lediglich an der Einmün­dung in den Wollmarkt traten zwei später überbaute und verän­derte Kemenaten in Erschei­nung. Wie in anderen Quartieren des alten Braun­schweigs wechselten sich trauf­stän­dige Fachwerk­bauten aus dem 15. bis zum 18. Jahrhun­dert in leben­diger Folge ab. Die größten Exemplare stammten aus dem späten 15. Jahrhun­dert.

In dieser Epoche, die kunst­ge­schicht­lich der späten Gotik zugeordnet wird, muss in sämtli­chen Weich­bilden eine unglaub­liche Baukon­junktur geherrscht haben. In Literatur und histo­ri­schen Bildquellen sind an die 300 spätmit­tel­al­ter­liche Häuser überlie­fert. Schönstes und größtes noch erhal­tenes Beispiel ist der 1489 errich­tete „Ritter St. Georg“ an der Alten Knochen­hau­er­straße. Noch größer war das aus zwei Bauteilen bestehende Haus Weber­straße 5 mit seinen insgesamt 23 Spann (=Gefach­breiten) an der Südseite des Straßen­zuges. Die stark über kräftig profi­lierten Knaggen vorkra­genden Stock­werke beinhal­teten ursprüng­lich Speicher­räume. Ihr Fassungs­ver­mögen muss enorm gewesen sein, nur vergleichbar mit den Speicher­stö­cken der Alten Waage.

Und damit nicht genug: Im Hof von Weber­straße 5 stand ein ähnlich großer Seiten­flügel aus gleicher Bauzeit. Typisch für die spätgo­ti­schen Bauten waren Treppen­friese an den Stock­werk­schwellen, wie sie heute ebenfalls am „Ritter St. Georg“ oder an den Stifts­her­ren­häu­sern an der Kleinen Burg zu betrachten sind. Weitere bemer­kens­werte Denkmäler aus der Zeit vor 1500 waren an der Nordseite der Weber­straße mit Nr. 28 und Nr. 40 erhalten geblieben. Bemer­kens­wert war der kleine Speicherbau Nr. 15, der sein spätmit­tel­al­ter­li­ches Erschei­nungs­bild und seine Nutzung bis zuletzt bewahrt hatte.

Heraus­ra­gendes Renais­sance-Fachwerk­haus

Hof zwischen Weber- und Becken­wer­ker­straße nach der Sanierung in den 1930er Jahren. Foto: Stadt­ar­chiv Braun­schweig

Auch das statt­liche Renais­sance-Fachwerk­haus Weber­straße 12 gehörte zu den heraus­ra­genden Bauten, wobei die ursprüng­liche Unter­tei­lung in Wohnbe­reich und Dielen­teil noch gut erkennbar war: In die Diele mit der Torein­fahrt wurde wohl um 1900 ein Laden eingebaut, der rechts anschlie­ßende Wohnteil lag etwas höher und war unter­kel­lert. Die Dachauf­bauten (Zwerch­haus und Gauben) entstanden wohl um 1800 für eine Wohnnut­zung des Dachraums, auch der Speicher­stock wurde damals zu Wohnräumen umfunk­tio­niert. Am Renais­sance­haus Weber­straße 47 hatte sich noch ein rundbo­giges Dielentor erhalten.

Viele der großen Häuser wurden nachträg­lich unter verschie­denen Besitzern aufge­teilt und damit entspre­chend verändert. Zudem gestal­tete man die ursprüng­li­chen Speicher seit dem 18./19. Jahrhun­dert für eine Wohnnut­zung um. Damit wuchs die Belegung der Häuser stark an – was schließ­lich zu unvor­stellbar beengten Wohnver­hält­nissen führte. Im Viertel zwischen Lange Straße, Weber- und Becken­wer­ker­straße erfolgte von 1933 an eine erste Stadt­sa­nie­rung, die bei Kriegs­be­ginn einge­stellt wurde. Im Rahmen der von dem Städte­bauer und Hochschul­lehrer Hermann Flesche gelei­teten Sanierung wurden Häuser instand­ge­setzt und vor allem die engen Hinter­höfe entkernt sowie kleine Freiflä­chen gestaltet. In der Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus erfolgten solche Sanie­rungen selbst­ver­ständ­lich mit ideolo­gi­schem Unterton – es ging um die Besei­ti­gung von „Brutstätten der Krimi­na­lität“ und um „Volks­hy­giene“.

Weber­straße mit St. Andreas, Heute. Foto: E. Arnhold

Großmaß­stäb­liche Bebauung

Der vom NS-Regime entfachte Krieg fegte das frisch sanierte Quartier beiseite. Der Wieder­aufbau ging in der einstigen Neustadt eher schlep­pend voran. In den späten 1950er Jahren wurde der Straßen­d­rei­strahl am Radeklint durch großmaß­stäb­liche Bebauung gekappt. An der Weber­straße entstanden seit den 1960er/70er Jahren schließ­lich eine Berufs­schule, die Sport­halle Alte Waage und 1999 die Rückseite eines Großkinos. Damit gerierte die Weber­straße von einer Inkunabel des alten Braun­schweig zu einer der erbar­mungs­wür­digsten Fehlleis­tungen des Wieder­auf­baus dieser Stadt.

 

Elmar Arnhold ist Bauhis­to­riker (Gebautes Erbe) und Stadt­teil­hei­mat­pfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröf­fent­licht er regel­mäßig Beiträge zu histo­ri­schen Bauten in Braun­schweig.

 

 

Fotos Weber­straße

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