Hoffmann liest aus seinen Memoiren

Christoph Helm, Vorsitzender des Vereins Kulturstadt Wolfenbüttel, begrüßte Gert Hoffmann (am Tisch) zur Autorenlesung. Foto: Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz
Christoph Helm, Vorsitzender des Vereins Kulturstadt Wolfenbüttel, begrüßte Gert Hoffmann (am Tisch) zur Autorenlesung. Foto: Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz

Früherer  Braun­schweiger Oberbür­ger­meister startete mit seiner Reihe regio­naler Lesungen aus seinem Buch „Von Irrwegen in die Verant­wor­tung“ in Wolfen­büttel.

Der frühere Braun­schweiger Oberbür­ger­meister Gert Hoffmann hat eine offene politi­sche Biografie verfasst, die spannende Blicke hinter die Kulissen erlaubt. Hoffmann schildert darin seine wichtigsten Lebens­sta­tionen, angefangen bei der Kindheit im zerstörten Berlin bis zur Amtsüber­gabe in Braun­schweig an Ulrich Markurth. Er begründet Entschei­dungen und erinnert an Begeg­nungen mit bedeu­tenden Persön­lich­keiten der jüngeren deutschen Geschichte. Aus dem  erfri­schend populär verfassten Buch mit dem Titel „Von Irrwegen in die Verant­wor­tung“ veröf­fent­li­chen wir im Folgenden kurze, für die Biografie charak­te­ris­ti­sche Auszüge aus den wesent­li­chen Kapiteln.

Wer inten­siver eintau­chen will in die Welt Hoffmanns findet dazu in regio­nalen Lesungen Gelegen­heit dazu. Die erste fand gestern in Wolfen­büttel statt. Veran­stalter waren der Verein Kultur­stadt Wolfen­büttel und die Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz (SBK), deren Präsident Hoffmann während seiner Braun­schweiger Amtszeit und darüber hinaus bis zum vergan­genen Jahr war. Hoffmann wird auch in Helmstedt, Goslar, Wolfsburg, Braun­schweig, Salzgitter und Gifhorn lesen und für Fragen zur Verfügung stehen. Im Mai werden Präsen­ta­tionen in Göttingen, Dessau und Hannover folgen. Das Buch war am vergan­genen Freitag erstmals in Berlin der Öffent­lich­keit vorge­stellt worden.

Die Auszüge:

Aus der Kindheit: Während dieser drama­ti­schen Leidens­zeit der einge­schlos­senen Stadt war ich aller­dings nicht dort, sondern bei meinen Großel­tern mütter­li­cher­seits in Gummers­bach. Im Mai war ich – ohne dass meine Eltern wie alle anderen auch nur ahnten, dass eine solche Blockade kommen könnte – nach Köln ausgeflogen und von dort in die Oberber­gi­sche Kreis­stadt gebracht worden. Wahrschein­lich, um dort für einige Wochen etwas „aufge­päp­pelt“ zu werden, da die Ernäh­rungs­lage in Berlin sehr schwierig war. In Gummers­bach waren die Lebens­ver­hält­nisse im Allge­meinen und die meiner Großel­tern im Beson­deren völlig anders. Der Großvater führte ein ebenfalls tradi­ti­ons­rei­ches, aller­dings noch größeres Textil­un­ter­nehmen, nämlich die 1866 als „Strick- und Wirkwa­ren­fa­brik“ gegrün­dete Firma „Emil Wilhelm Sonder­mann“. … Statt in der für die damaligen Verhält­nisse immer noch relativ großen Zweiein­halb-Zimmer-Wohnung in Kreuzberg, durch deren Decke aller­dings gelegent­lich Wasser tropfte, lebte ich nun in einer imposanten Fabri­kan­ten­villa in der Groten­bach­straße mit viel Dienst­per­sonal, einem riesigen Garten und Lebens­be­din­gungen, als ob es nie einen Krieg gegeben hätte. … Was aber meine Eltern in der Zeit der Trennung empfanden, kommt eindrucks­voll in einem Brief meines Vaters vom 19. Oktober 1948 an einen Geschäfts­freund zum Ausdruck: „Auch meine Frau leidet besonders stark unter diesen unseligen Verhält­nissen, da unser Junge nun schon seit fünf Monaten drüben im Westen bei den Großel­tern ist und unsere Sehnsucht nach dem Kinde von Woche zu Woche stärker wird. Nur die Überzeu­gung, dass er bei den derzei­tigen Verhält­nissen und der ungewissen Zukunft drüben sicher­lich besser aufge­hoben ist und nichts zu entbehren hat, lässt uns die Trennung einiger­maßen ertragen.“

Zur Radika­li­sie­rung: „Dann kamen 1966 das Ende der Regierung Erhard und die erste große Koalition in der Geschichte der Bundes­re­pu­blik. Das hatte weitrei­chende Folgen für die politi­sche Stimmung, gerade in der Jugend. Bei ihrer großen Mehrheit – jeden­falls der akade­mi­schen Jugend – führte das aus Verär­ge­rung über den „Verrat der SPD“ durch den Pakt mit der „Rechten“ und „alten Nazis“ (Kurt-Georg Kiesinger) zur Radika­li­sie­rung nach links. Bei mir ging es genau in die andere Richtung. Eine CDU, die den ehema­ligen Kommu­nisten Herbert Wehner zum Minister machte, war schlicht nicht mehr wählbar. Die Alter­na­tive schien die „Natio­nal­de­mo­kra­ti­sche Partei Deutsch­lands“ (NPD) zu sein, die 1964 gegründet worden war und infolge dieser großen Koalition und erster wirtschaft­li­cher Schwie­rig­keiten in der Bundes­re­pu­blik im Jahre 1966 in viele Landtage einzog.“

Von der Abkehr: Und so signa­li­sierte ich Müller Anfang des Jahres Interesse an dem Eintritt in die Junge Union. Der ging so glatt aber nicht vonstatten, denn im Kreis­ver­band gab es darüber eine kontro­verse Diskus­sion. Man legte meinen Aufnah­me­wunsch, wie anderswo in der Bundes­re­pu­blik in ähnlichen Fällen, erst einmal auf Eis. Rückbli­ckend kann ich das nur als sehr nachvoll­ziehbar empfinden. Aber ich hatte nun einmal diesen Weg einge­schlagen und hielt, wie so oft, an meiner Zielset­zung fest. Auch Müller wollte schon aus Gründen des eigenen Prestiges die Sache positiv zu Ende bringen. Er riet mir, jetzt einen Antrag auf Aufnahme in die CDU zu stellen, und bereitete das offenbar als Mitglied des CDU-Kreis­vor­standes politisch in einigen Hinter­grund­ge­sprä­chen vor. Mitte Mai wurde ich zu einer für mich nun wirklich entschei­denden und über meinen weiteren Lebens­lauf bestim­menden Sitzung des Kreis­vor­standes einge­laden. Unter Vorsitz des erfah­renen und hoch angese­henen Apothe­kers Peter Ianocha wurde ich eingehend befragt nach meinem Engage­ment für die NPD, meinen Gründen für den Austritt und für den Wechsel und nach derzei­tiger Einstel­lung zu bestimmten Themen. Das Ganze geschah in einer sehr freund­lich-wohlwol­lenden Atmosphäre, so dass ich schon ein gutes Gefühl hatte. Nachdem ich weg war, beschloss der Vorstand meine Aufnahme, und man teilte mir das mit. Mein Interesse an einer partei­po­li­ti­schen Karriere war ungebro­chen, und so begann ich das, was man gemeinhin die „Ochsen­tour“ nennt. Ich nahm an fast allen Veran­stal­tungen der Partei teil, brachte mich in Arbeits­kreise ein, meldete mich rege zu Wort und engagierte mich.

In Dessau: Nach den ersten Monaten konnten wir uns inten­siver um kommunale Beratung, dringend notwen­dige Bebau­ungs­pläne, die Neuord­nung des Schul­sys­tems und vor allem um die schwie­rige wirtschaft­liche Lage auf dem Arbeits­markt kümmern. Für Letzteres war schon allein wegen der Dimension, aber auch wegen der Symbolik, dafür Bitter­feld der Ort, an dem sich alle diese Fragen und Probleme verdich­teten und gelöst werden mussten. Hier aber konnte nur einer das scheinbar unabän­der­liche Aus für den tradi­tio­nellen Chemie-Standort verhin­dern: Bundes­kanzler Helmut Kohl. Und ich schrieb ihn unter Missach­tung aller bürokra­ti­schen Gepflo­gen­heiten und Umgehung des Dienst­weges einfach an. Ich schil­derte ihm die drama­ti­sche Zuspit­zung der Lage und bat ihn, selbst einmal sich vor Ort ein Bild zu machen und zugleich durch einen Besuch die Stimmung wieder zu verbes­sern.“

Aus Braun­schweig: Nicht ohne Anspan­nung ging ich dann in meine erste Dezer­nenten-Konferenz in das alte Magis­trats­zimmer. Wie würde die Runde auf mich reagieren? In diesem Kreis war ich – das letzte Mal! – der Jüngste, die anderen waren erfahrene und selbst­be­wusste Wahlbe­amte, und sie musterten mich schon skeptisch, weil sie viel über meinen Führungs­stil, mein Tempo und meine Verän­de­rungs­ab­sichten gehört hatten. Zwar waren sie unter­ein­ander zum Teil extrem zerstritten, was die Arbeit der Verwal­tung in den letzten Jahren deutlich geschwächt, ja sogar gelähmt hatte. Aber in einem Punkt waren sie sich wohl alle einig: Der kolle­giale Stil der Beratung, Diskus­sion und Entschei­dung hier sollte beibe­halten werden. Aber nachdem ich Tritt gefasst hatte, stellte ich schon nach der zweiten Sitzung klar, dass die Entschei­dungen nach möglichst kurzer Beratung allein von mir getroffen und verant­wortet würden. Schließ­lich war ich nach dem sogenannten „monokra­ti­schen“ System der Kommu­nal­ver­fas­sung ja auch für alles gegenüber Öffent­lich­keit und Politik verant­wort­lich. Einige hatten sichtlich Schwie­rig­keiten mit dieser neuen Art und trösteten sich wohl auch damit, dass ihre Amtszeit unter diesem neuen, forschen Verwal­tungs­chef nicht mehr lange dauern würde.

Zum Schloss: In einem Gastkom­mentar in der WELT („Es sind nicht nur die Steine“) schrieb ich deshalb unter anderem: „Das Schloss gibt Braun­schweig die verlorene Mitte zurück. Von diesem Projekt ging der entschei­dende Impuls zur Erneue­rung aus, die nötig war, um die heraus­ra­gende Stellung Braun­schweigs als regio­nales Einkaufs­zen­trum im Wettbe­werb mit erstar­kenden Nachbar­städten zu festigen und sogar auszu­bauen. Für ein Grund­stück erhielt die Stadt über die archi­tek­to­ni­sche Neuin­sze­nie­rung ihrer Innen­stadt hinaus das Geld, um die in der Nachkriegs­zeit entstan­denen Verkehrs­schneisen in Boule­vards umzuge­stalten, um neue, attrak­tive Wege in eine lange vernach­läs­sigte Innen­stadt zu bauen. Aus eigener Kraft wäre das unmöglich gewesen.“ Ich erwiderte den Kritikern dieser Verbin­dung von Tradition und „schnödem Kommerz“, schließ­lich lebe „auch die allseits bewun­derte Pracht Londoner oder Pariser Konsum­pa­läste vom Rückgriff auf vergan­gene Archi­tek­tur­stile“. Und ich schloss mit einem Satz von Richard Borek zu mir: „Es sind nicht nur die Steine“ und ergänzte: „Tatsäch­lich, in diesen Steinen steckt Leben, denn das ganze Umfeld blüht auf. Zur Aufbruchs­stim­mung in Braun­schweig hat das Schloss entschei­dend beigetragen.“ In diesem vielbe­ach­teten Kommentar war die gesamte Idee und Begrün­dung dieses Jahrhun­dert-Projekts enthalten, das jetzt seiner Fertig­stel­lung entgegen sah.

Vom Abschied aus dem Amt: Nun kam tatsäch­lich das Ende, wie immer schließ­lich mit unerwar­teter Schnel­lig­keit. Mein letzter Empfang in der Dornse galt den Delega­tionen der Europa­meis­ter­schaft der Leicht­ath­letik-Mannschaften, um die ich so sehr gekämpft hatte. Auch das war irgendwie passend. Ebenso wie mein letzter öffent­li­cher Termin, der Spaten­stich zum Waschhaus für Braun­schweigs Muslime, das ich ebenfalls mit Mühe, aber schließ­lich sogar mit größt­mög­li­cher Mehrheit durch­ge­setzt hatte. Am selben Abend führten meine Frau und ich das Ehepaar Markurth bei einem Abend­essen im „Richmond“ in das Amt und einige Bräuche ein. Am Ende des Abends gingen meine Frau und ich noch einmal allein durch das Schloss, in dem wir so viele reprä­sen­ta­tive Essen wahrlich zur Ehre der Stadt, aber durchaus auch zur eigenen Erbauung gegeben hatten. Und ich dachte an meine Gesprächs­runden dort, wo wir im ausge­suchten Kreis losgelöst von den Alltags­themen über „Gott und die Welt“ disku­tiert hatten. Saß man dort im „Richmond“ mit inter­es­santen Persön­lich­keiten, waren die schon geschil­derten Ratssit­zungen ganz weit weg und das Amt auf einmal viel attrak­tiver. In meiner letzten Dezer­nenten-Konferenz und meiner letzten kurzen Fachbe­reichs­leiter-Sitzung hatte ich schon etwas mehr Mühe, nicht senti­mental zu werden, erstickte aber weiter jede Regung dazu bei mir und anderen im Keim.

Fakten

Von Irrwegen in die Verant­wor­tung

Autobio­gra­phie von Gert Hoffmann

Gebundene Ausgabe: 488 Seiten

Verlag: Klartext; Auflage: 1 (13. April 2018)

ISBN-10: 3837519155

ISBN-13: 978–3837519150

Preis: 29,95 Euro

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