Bei Anruf Hilfe

Der Griff zum Telefon kann der Ausweg aus einer Lebenskrise sein. Foto: Getty Images
Der Griff zum Telefon kann der Ausweg aus einer Lebenskrise sein. Foto: Getty Images

Rund 100 Ehren­amt­liche der Telefon­seel­sorge in Braun­schweig kümmern sich seit mehr als 50 Jahren um Menschen in Krisen­si­tua­tionen.

„Bevor Du Dich umbringst, ruf erst an!“ Der Brite Chad Vara ließ Anfang der 1950er Jahre diesen Text und die Nummer seines Telefon­an­schlusses in einer großen Londoner Zeitung veröf­fent­li­chen. Der angli­ka­ni­sche Pfarrer platzierte die Telefon­nummer aus der Ferne sichtbar im Fenster seines Pfarr­hauses der Kirche St. Stephen Walbrook und rief auf diese Weise zusammen mit den „Samari­tans“ die erste nicht-klerikale Telefon­seel­sorge in Europa ins Leben. Schon bald konnte der Geist­liche die Anrufflut nicht mehr bewäl­tigen. Die helfende Idee schwappte auf den Kontinent herüber. Der Pastor und Mediziner Klaus Thomas gründete 1956 in Berlin die „Ärztliche Lebens­mü­den­be­treuung“.

Seit 1967 existiert in Braun­schweig eine Telefon­seel­sorge – die zweite in Nieder­sachsen – mit 100 ehren­amt­lich tätigen Männern und Frauen, die 24 Stunden am Tag und das ganze Jahr über per Telefon, Chat und Email erreichbar sind. Sie haben ein offenes Ohr für Menschen, die aus verschie­densten Gründen tief in der Krise stecken und mitunter verzwei­felt sind. „Ein wertschät­zendes Gespräch ist das größte Thera­peu­tikum, das Menschen zur Verfügung steht. Reden hilft“, erklärt der Pastor Christian Kohn, Leiter der Telefon­seel­sorge in Braun­schweig.

Zwischen 17.000 und 19.000 Anrufe pro Jahr gehen bei den Braun­schweiger Telefon­hel­fern ein, dies sind etwa 50 bis 60 Kontakte pro Tag. Die Gründe für einen Anruf haben sich im Laufe der Jahrzehnte geändert, meint der 59-Jährige. „Die meisten Anrufe erreichen uns, weil die Menschen einsam sind, Ängste haben oder wegen körper­li­chen Krank­heiten. Das sind durchaus Geschwis­ter­paare“, so der Pasto­ral­psy­cho­loge, der diesen seelsor­ge­ri­schen Beruf seit 2014 ausübt und eine umfas­sende Ausbil­dung zum Famili­en­the­ra­peuten und Super­visor besitzt. „Das Thema Suizi­da­lität kommt am Telefon gar nicht mehr so oft vor.“

Die Kontakt­auf­nahme erfolgt unter­schied­lich: Die 20 bis 40 Jahre alten Hilfe­su­chenden treten mit der Telefon­seel­sorge immer häufiger über den Chat und per Email in Kontakt. Ab 50 wird nach wie vor vorwie­gend zum Telefon­hörer gegriffen.

Wo die Telefon­seel­sorge in Braun­schweig ihren Sitz hat, bleibt ein streng gehütetes und sinnvolles Geheimnis. „Die Anrufer wissen nicht, wo sie anrufen. Aber auch uns ist nicht bekannt, von wo aus die Hilfe­su­chenden uns kontak­tieren“, so Kohn, der seit 1991 in Braun­schweig lebt und zuvor an St. Martini, St.Johannes, Hondelage und am Braun­schweiger Dom als Pfarrer tätig war. Die Anony­mität hilft bei der Krisen­be­wäl­ti­gung und ist das zentrale Element der Telefon­seel­sorger. „Denn mit Unbekannten kann man oft viel besser sprechen als mit Menschen, die man gut kennt, denn diese versuchen durch die Nähe leider allzu häufig, die Hilfe suchende Person zu bevor­munden“, weiß Kohn aus der täglichen Arbeit.

Die rund 100 ehren­amt­li­chen Helfer sind zwischen 25 und 89 Jahre alt. Der Frauen­an­teil überwiegt deutlich. Welche Fähig­keiten muss man bei der Ausübung des Ehren­amtes Telefon­seel­sorger mitbringen? „Wer schon einmal eine Krise erlebt und gemeis­tert hat, sich selbst reflek­tieren kann, Interesse an unter­schied­lichsten Lebens­ent­würfen hat und empha­tisch zuhören kann, ist willkommen“, sagt der gebürtige Celler. Die Ehren­amt­li­chen – darunter Lehrer, Mediziner, Pharma­zeuten, Wirtschafts­wis­sen­schaftler, Hausmänner und ‑frauen – bilden sich in Seminaren fort und nehmen alle 14 Tage an einer Super­vi­sion teil. Eine Verwal­tungs­kraft und die stell­ver­tre­tende Leiterin Heike Köhler, eine Diplom­psy­cho­login und Psycho­the­ra­peutin, komplet­tieren das haupt­amt­liche Team.

Gerade erst hat die Wohnung, in der die Braun­schweiger Telefon­seel­sorge ihr Zuhause hat, eine neue Ausstat­tung erhalten. „Wir konnten die Biblio­thek renovieren, haben neue Bücher bekommen, neu Laptops und haben die Beleuch­tungs­si­tua­tion verbes­sert“, so Kohn. Dies erfolgte auch mit finan­zi­eller Unter­stüt­zung der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz. Haupt­sponsor von TS Deutsch­land ist die Telekom. Alle Telefon­ge­spräche sind daher kosten­frei. Träger der TS Braun­schweig ist die Propstei Braun­schweig der Braun­schwei­gi­schen Landes­kirche.

Aufge­hoben hat Christian Kohn eine Postkarte, die ihn bereits vor einigen Jahren erreichte und ihn zugleich daran erinnert, dass seine Arbeit und die seiner ehren­amt­li­chen Telefon­seel­sorger jeden Tag Sinn macht. Der Absender schrieb: „Wenn es Euch nicht gegeben hätte, wäre ich nicht mehr am Leben.“

Kontakt:

Die Telefon­seel­sorge Braun­schweig ist erreichbar unter: 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222

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