Katastrophe zu einem letzten propa­gan­dis­ti­schen Auftritt genutzt

Gedenktafel an der Schöppenstedter Straße 31 für 96 Opfer des Bombenangriffs Oktober 1944. Foto: Archiv Gerd Biegel

Histo­riker Gerd Biegel schreibt in seinem „Wochen­brief“ aus dem Institut für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte über die Erinne­rungs­kultur zur Bomben­nacht.

Persön­liche Schick­sale als Momente des Erinnerns blieben nach der verhee­renden Bomben­nacht vom 14. auf den 15. Oktober 1944 zu lange ausge­spart, meint Histo­riker Gerd Biegel in seinem „Wochen­brief aus dem Institut für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte“. Das habe sich erst nach 1994, zum 50. Jahrestag, als eine Folge der Neuori­en­tie­rung der Geschichts­wis­sen­schaft nach 1968 entschei­dend geändert, so der Gründungs­di­rektor des Instituts. Die Erinne­rungen der Betrof­fenen führten – verstärkt durch drängende Fragen der jüngeren Genera­tion – zu vermehrtem Interesse an der Frage nach den Opfern der Bomben­nacht, ihren Leiden, ihren Gefühlen und ihrem Überleben aus der Diktatur des Schre­ckens. „Der Löwe – das Portal für das Braun­schwei­gi­sche“ zitiert aus dem Wochen­brief:

Fassungs­lose Betrof­fen­heit ist in einem ersten Zeitungs­be­richt vom 17. Oktober 1944 zu spüren, aber nur vor dem Verlust von „Braun­schweigs Gesicht“ – kein Wort zu den wirkli­chen Opfern, den Menschen. „Vom Petritor blicken wir ungehin­dert nach dem Wollmarkt und weiter nach dem Hagen­markt. Wir suchen vergeb­lich eine zusam­men­hän­gende Häuser­flucht … Wir tappen weiter, blicken trauernd auf die völlig vernich­teten Fachwerk­reihen rund um den Andreas und stellen fest, dass der wunder­volle Bau der Alten Waage nunmehr dem Erdboden gleich­ge­macht ist. Doch wappne dich mit Zuver­sicht, du wirst noch Schlim­meres erblicken! … Immer wieder krampft sich unser Herz zusammen vor den Trümmern eines Wohnhauses, vor den Resten eines Kultur­denk­mals“. (…)

Das Grauen instru­men­ta­li­siert

In den Tagen des Infernos von 1944 wurde sogar das Grauen instru­men­ta­li­siert. Den Verant­wort­li­chen der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges fehlte jegliches Interesse an den Folgen der von ihnen geschaf­fenen Zerstö­rung, die Braun­schweigs Geschichte auslöschte. Die ideolo­gi­sche Propa­ganda verkün­dete am folgenden Tag: „Mord ist Mord. Es gibt für einen zivili­sierten Menschen auf der Welt für Mord keine Entschul­di­gung. Mörder, Engländer und Ameri­kaner, die auf dem Rücken ihrer Leder­jacke geschrieben haben, dass sie einem Klub von Mördern angehören, haben im Bunde mit den Juden ihre verteu­felte Hand gegen deutsche Frauen und Kinder, gegen Männer, gegen deutsche Volks­ge­nossen ohne Unter­schied des Alters und ihrer sozialen Stellung ausge­streckt. Die alte Hanse­stadt Braun­schweig, eine der deutschen Städte mit ruhmvoller Vergan­gen­heit, deren Bedeutung in ihrer Hochzeit der Blüte der deutschen Hanse sich selbst Engländer nicht verschließen konnten, liegt in Trümmern.“ (…)

Und Gauleiter Lauter­ba­cher hatte folgenden Aufruf erlassen: „Meine Volks­ge­nossen, Braun­schweiger! Ein schwerer briti­scher Terror­an­griff hat in der Nacht vom 14. zum 15. Oktober Eure Stadt in ihren wesent­li­chen Teilen vernichtet. Der Brand­fa­ckel eines blind­wü­tigen und kultur­losen Feindes sind in wenigen Stunden ehrwür­digste Zeugen deutscher Vergan­gen­heit und viele tausend Wohnstätten mit Hab und Gut mancher Genera­tionen zum Opfer gefallen. Das alte Braun­schweig ist in Schutt und Asche versunken. Hunderten aus Eurer Gemein­schaft ist ihr Leben oder ihre Gesund­heit genommen. Angesichts dieser Barbarei und dieses sinnlosen Mordens deutscher Menschen bleibt uns nur übrig, die Zähne zusam­men­zu­beißen, uns gegen­seitig so gut und schnell wie möglich zu helfen und die Rache zu organi­sieren. Anglo­ame­ri­kaner und Bolsche­wisten wollen uns erbar­mungslos vernichten und Deutsch­land zur Wüste machen. Das haben sie Euch Braun­schwei­gern erneut bewiesen. Wir aber wollen leben und müssen siegen. Das setzt voraus, dass wir uns im natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Glauben und in der schon oft bewie­senen Pflicht­er­fül­lung zusam­men­schließen und uns auch aus der Glut der Terror­nacht und über die Trümmer hinaus zum kompro­miss­losen Kampf bis zur völligen Nieder­rin­gung unserer Gegner bekennen.“ (…)

Bereits am 29. Oktober 1944 nutzten die Macht­haber die Katastrophe vom 14./15. Oktober zu einem letzten propa­gan­dis­ti­schen Auftritt in Form einer Gedenk­feier: Gottes­dienst im Dom, demons­tra­tiver Marsch durch die in Trümmern liegende Innen­stadt zum Residenz­schloss und Abschluss­kund­ge­bung vor einem übergroßen Eisernen Kreuz unter dem zynischen Motto: „Kein anderes als ein natio­nal­so­zia­lis­ti­sches Deutsch­land wird die zerstörte Stadt wieder aufbauen.“

Neue Straße – im Hinter­grund der Dom. Foto: Archiv Gerd Biegel

Zwischen Vergess­lich­keit und Vogel-Strauß-Politik

Glück­li­cher­weise kam es anders. In den ersten Jahren nach Kriegs­ende war die Erinne­rung an die Bomben­nächte und ihre zerstö­re­ri­schen Folgen noch durch das persön­liche Erleben und die tägliche Anschauung in einer zerstörten Stadt bestimmt. Bereits 1949, bei der Gedenk­feier zum 5. Jahrestag, musste der damalige Oberstadt­di­rektor aber in mahnenden Worten feststellen, dass die Menschen nichts aus der Geschichte lernen und offenbar aus der Verant­wor­tung fliehen wollen und ein klares Bekenntnis zum Frieden meiden. Man schwanke zwischen Vergess­lich­keit und Vogel-Strauß-Politik. In der Braun­schweiger Zeitung vom 19. Oktober 1949 meinte der Kommen­tator lapidar: „Wenn man dieser Zeit nach fünf Jahren gedenkt, dann kann jede Diskus­sion nur befremden“.

Diese Meinung entsprach durchaus dem Erinne­rungs­ver­halten der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Man wollte sich nicht kollektiv erinnern, man hat vielmehr das „kommu­ni­ka­tive Beschweigen“ bevorzugt. Noch blieben Gedenken und öffent­liche Erinne­rung an die Ereig­nisse der noch erinne­rungs­nahen Vergan­gen­heit weitge­hend aus. Erst Anfang der 1960er Jahre, als allmäh­lich das Bild des „alten Braun­schweigs“ zu verblassen begann, setzte das bewusste Erinnern gegenüber dem materi­ellen und kultu­rellen Verlust ein. (…)

Die Analyse der damaligen Medien­be­richte lässt erkennen, dass an die Stelle des persön­li­chen Erinnerns mehr und mehr ein offiziell-öffent­li­ches und politi­sches Gedenken – anonym und unper­sön­lich – trat. Auch diese Entwick­lung entsprach der Zeit: Es gab in der westdeut­schen Nachkriegs­ge­sell­schaft einen allgemein funktio­nie­renden Konsens, die Vergan­gen­heit aus der Perspek­tive der biogra­fisch existen­zi­ellen Erfahrung nicht zu thema­ti­sieren. Daher orien­tierte sich auch in Braun­schweig das Gedenken bis in die 1970er Jahre überwie­gend am Verlust des histo­ri­schen Braun­schweigs. Persön­liche Schick­sale als Momente des Erinnerns blieben ausge­spart. Der kleine Mann als Opfer der Geschichte blieb ausge­sperrt aus dem amtlichen Tummel­platz der Erinne­rung der Vergan­gen­heit und das Persön­liche ging im Allge­meinen weitge­hend verloren. (…)

Neben den Betrof­fen­heits­ri­tualen

Mit der wachsenden zeitli­chen Distanz kamen dann endlich die zahlen­mäßig schwin­denden „Zeitzeugen“ zu Wort. … Die Histo­riker haben in den 1990er Jahren aufgrund zahlloser Quellen­in­for­ma­tionen begonnen, ein immer umfas­sender werdendes Detail­bild der histo­ri­schen Ereig­nisse des Bomben­krieges zu schaffen und neben den offizi­ellen jährli­chen Betrof­fen­heits­ri­tualen wuchs der Wunsch nach mehr Sachin­for­ma­tionen zum Geschehen, verbunden mit der Frage nach dem Sinn des Bomben­krieges. …

Erinne­rungs­kultur wie das Vernetzte Gedächtnis, Gedenken an die Zerstö­rung der Synagoge, an deren Stelle ein Bunker errichtet wurde, in dem die jüdischen Mitbürger übrigens keinen Zugang hatten (!), Zwangs­ar­beiter und KZ – Außen­stelle mit Gedenk­stätte Schill­straße oder der bedrü­ckende Friedhof Hochstraße kamen beispiel­haft ebenso hinzu, wie die erste „Zeitzeugen-Dokumen­ta­tion“ des Friedens­zen­trums und der Braun­schweiger Zeitung (2004). Es kam etwas in Bewegung, aber es ist noch längst nicht genug! (…)

Eine dauer­hafte Mahnung

Aber noch fehlen uns manche Antworten und neue Fragen stellen sich ebenso: noch bleiben Wissens­lü­cken ebenso, wie die Notwen­dig­keit, aus der Erinne­rung an die schreck­lichste aller Kriegs­nächte in Braun­schweig eine dauer­hafte Mahnung für den Frieden werden zu lassen, denn immer noch werden weltweit Städte wieder durch Bomben und Raketen bezie­hungs­weise Drohnen gezielt zerstört, unschul­dige und hilflose Menschen getötet, keine Rücksicht auf die Zivil­be­völ­ke­rung genommen und die Inhuma­nität wieder zur politi­schen Doktrin aufge­blasen. (…)

Demokra­tien gründen auf Menschen­würde und verur­teilen den Krieg, Autokra­tien dagegen kennen keine dauer­haften Werte, die unsere Erde und die Menschen schützen und würdigen. Daher bin und bleibe ich von der Wirkungs­macht der liberalen Demokratie auch als Zukunfts­mo­dell überzeugt. Ich werde die Hoffnung auf Demokratie, Frieden und Menschen­würde auch für unsere Zeit nie aufgeben. Für diese Hoffnung kämpfen wir als Histo­riker in unserer Stadt, für ihre Bürge­rinnen und Bürger, denn auch ihre Zukunft hatte bereits in der Vergan­gen­heit begonnen, und nein, sie war nicht im Inferno der Bomben­nacht vor 80 Jahren auf immer verloren gegangen, dafür müssen wir dankbar sein und uns weiter für eine humane Zukunft einsetzen.

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