Große Teile der Innen­stadt überflutet

Friedrich-Wilhelm-Straße in Höhe Friedrich-Wilhelm-Platz. Die Straße ist vom Hochwasser überflutet. Foto: Stadtarchiv

Zur Not der Nachkriegs­mo­nate kam Anfang 1946 die erste Hochwas­ser­ka­ta­strophe von unerwar­tetem Ausmaß.

Derzeit scheinen die Nachrichten in unseren Medien ausschließ­lich erfüllt von Kriegen und Katastro­phen. Letztere stehen vielfach im Zusam­men­hang mit dem Wandel des globalen Klimas, auch wenn Auswir­kungen wie Stark­regen und Hochwasser lokal oder regional eintreten können, wie derzeit in Süddeutsch­land. Schnell auch wird von „Jahrhun­dert­hoch­wasser“ gespro­chen, doch in der zuneh­menden Abfolge solcher Wetter- und Natur­er­eig­nisse reichen die Jahrhun­derte bald nicht mehr aus, um die jeweilige Dramatik so zu benennen. Schaut man in die Geschichte, wird deutlich, wie wenig aus den vergleich­baren Ereig­nissen tatsäch­lich Erfah­rungen gewonnen und Vorsorge ernsthaft betrieben wurde.

Schnee­schmelze und Stark­regen

Auch Braun­schweig kann in seiner Stadt- und Regio­nal­ge­schichte auf solche Großscha­dens­er­eig­nisse zurück­bli­cken, auch wenn sie in den Geschichts­bü­chern oder der Erinne­rungs­kultur kaum eine oder keine Rolle spielen. Allein in den acht Jahrzehnten seit dem Ende des verhee­renden Zweiten Weltkriegs kennen wir acht Hochwas­ser­er­eig­nisse von außer­ge­wöhn­li­chem Ausmaß, die Stadt und Region Braun­schweig betroffen hatten, überwie­gend in Verbin­dung mit Schnee­schmelze im Harz oder ungewöhn­li­chem und unerwar­tetem Stark­regen.

Bereits 1946 traf es den ganzen Norden Deutsch­lands mit unerwar­teter Wucht: Erstmals wieder in Frieden konnten die Menschen damals vor 80 Jahren das Neue Jahr begrüßen. Eher bescheiden, doch dankbar für das Überleben, eher ruhig und in Demut, eine Zeit, die uns an unsere Gegenwart erinnert. Haltet inne und werdet Euch Eures Lebens sowie seiner Bedeutung bewusst, so das ambiva­lente Lebens­ge­fühl der Zeit, wie auch die Nachrichten der Braun­schweiger Zeitung in diesen ersten Monaten nach der Befreiung belegen. Doch die Not in der Stadt Braun­schweig dauerte an: winter­liche Strom- und Kohlen­krise, Lebens­mit­tel­knapp­heit und Wohnungsnot bedrückten die Menschen. Die neue Stadt­re­gie­rung konnte nur mühsam den Notstand verwalten.

Ein zeitge­nös­si­scher Verwal­tungs­be­richt lässt die Dramatik erahnen: „Schon ist tiefe Unruhe einge­treten wegen der Brotver­sor­gung. Die Stimmung gleicht einer Panik. Das Erliegen weiterer Betriebe erhöht die Gefahr des Eintritts einer Hunger­ka­ta­strophe (…) Getrieben von Not und Elend zeigen sich Auflö­sungs­er­schei­nungen, wie sie noch nie dagewesen sind. Hungernde Famili­en­väter, unter­ernährte Mütter und Kinder holen sich Kohle, Holz, Gemüse usw., wo sie es nur bekommen (…) Im Namen der Mensch­lich­keit richten wir deshalb Bitte und Hilferuf an die Alliierten, sich der Erkenntnis der tiefsten Not des deutschen Volkes und der Katastrophe, die die Welt erfassen könnte, nicht zu versagen. Wird nicht sofort und unmit­telbar geholfen, ist es zu spät.“

Höchster Abfluss­wert der Oker

Ein Paddel­boot fährt die Friedrich-Wilhelm-Straße Straße entlang in Richtung Hauptpost. Foto: Stadt­ar­chiv

Zu dieser Not kam Anfang 1946 noch die erste Nachkriegs-Hochwas­ser­ka­ta­strophe von unerwar­tetem Ausmaß, auch in unseren Tagen wieder ein aktuelles Thema. Anfang Februar 1946 war der Norden Deutsch­lands vom Rhein bis zur Elbe von Stark­re­gen­er­eig­nissen betroffen, die innerhalb einer Woche bis zum Dreifa­chen der durch­schnitt­li­chen Regen­menge eines Monats umfasste und den höchsten bis dahin gemes­senen Abfluss­wert der Oker von etwa 150 m³/s erreichte, gegenüber dem Normal­wert von 6 m³/s eine enorme Steige­rung. Dauer­regen führte schließ­lich am 8. Februar 1946 zur Überflu­tung großer Teile der Innen­stadt. Die Nieder­schlags­mengen des Stark­re­gens hatten nicht nur die Pegel der Oker rasant ansteigen lassen, erschwe­rend kam hinzu, dass zum einen viele Brücken­durch­gänge durch Kriegs­trümmer noch versperrt waren sowie durch den winter­li­chen Boden­frost die Wasser­massen selbst in den Rückhal­te­flä­chen nicht im Boden versi­ckern konnten.

Die Braun­schweiger Zeitung berich­tete am Mittwoch, dem 13. Februar 1946 auf ihrer Titel­seite zum Geschehen insgesamt: „Die Katastrophe ist mit großer Gewalt über Nord- und Westdeutsch­land herein­ge­bro­chen. Länger als hundert Jahre sei es her, so wird aus vielen überschwemmten Städten und Gebieten gemeldet, seit das Wasser so hoch gewesen wie jetzt, wo der Rhein, die Weser und die Elbe und das gesamte Netz ihrer Neben­flüsse und der Kanäle weit über die Ufer getreten sind und das tosende Wasser die Wiesen und Felder, Wege und Chausseen, die Reichs­au­to­bahn und die Eisen­bahn­strecke überflu­tete, Brücken fortriss, Häuser einstürzte und Menschen und Vieh in Gefahr brachte oder tötete. Der Schaden ist sehr groß, er ist noch nicht annähernd zu übersehen.“

Häuser mussten geräumt werden

Ähnlich auch die Berichte aus Braun­schweig am selben Tag: „Die plötz­liche Schnee­schmelze, verbunden mit den Regen­güssen der letzten Tage, hatte das Wasser der Oker in die Straßen der Stadt gedrückt. Man muss in den Annalen der Stadt schon sehr weit zurück­blät­tern, um eine Katastrophe gleichen Ausmaßes zu finden. Wenn der Umfang der Zerstö­rung auch noch nicht voll zu übersehen ist, so muss doch mit erheb­li­chen Sachschäden gerechnet werden. In der Eisen­büt­teler Straße, im Garten­gebiet Kennel, im Eichthal, in der Uferstraße und in der Gegend des Bahnhofs mussten Häuser oder die unteren Stock­werke geräumt werden.“

Selbst die BZ war direkt betroffen: „Die ‚BZ‘ schwimmt. Wenn Zeitungen den Sammel­wert von Brief­marken hätten, so würde diese Ausgabe der ‚BZ‘ ein Vermögen kosten. Am Sonntag­nach­mittag stand die Beleg­schaft der ‚Braun­schweiger Zeitung‘ vor den schwim­menden Resten eines ansehn­li­chen Papier­la­gers. Oben aus dem trüben Nass ragte noch die Rotati­ons­ma­schine heraus. So haben denn die Redak­teure ihr altes Heim verlassen und eine andere Arbeits­stätte gesucht.“

Britische Militär­fahr­zeuge fahren durch die Fluten. Foto: Stadt­ar­chiv

Sonder­sit­zung des Landtags

Der Braun­schwei­gi­sche Landtag hatte am Vortag eine Sonder­sit­zung in der Aula der Kant-Hochschule (heute Haus der Wissen­schaft in der Pockels­straße 11) abgehalten. Einziger Tages­ord­nungs­punkt dieses Notpar­la­mentes war: „Aussprache über Hilfe­leis­tung des Staates bei der Besei­ti­gung der Hochwas­ser­schäden“. Die besondere Situation war dabei, dass erst eine Woche später mit der ersten ordent­li­chen und öffent­li­chen Sitzung die Konsti­tu­ie­rung des neuen Landtags stattfand, in der dessen Mitglieder erstmals verpflichtet wurden.

Bei der vorhe­rigen Sonder­sit­zung wurde über die ersten Erkennt­nisse zu den Schäden im Land berichtet, wobei man erfreut war, dass überwie­gend massive Sachschäden zu verzeichnen waren, aber keine Perso­nen­schäden und auf dem Land nur geringe Verluste beim Vieh. Dafür aber in Stadt und Land zerstörte Gebäude, unter­bro­chene Versor­gungs- und Verkehrs­in­fra­struktur sowie überflu­tete Werkstätten, Fabrik­an­lagen und wichtige Materi­al­lager. Oberbür­ger­meister Dr. Böhme berich­tete zu den Haupt­ur­sa­chen der Überflu­tungen innerhalb der Stadt Braun­schweig: Zum einen habe die Oker am Bruch­tor­wall die Brüstung überstiegen und die benach­barten Straßen, besonders den Friedrich-Wilhelm-Platz, die Leopold- und die Friedrich-Wilhelm-Straße überflutet, dann aber sei das Wasser aus den Kanälen heraus in die Keller geflossen. Leider sei es nicht möglich gewesen, die Ursache zu bekämpfen.

Verderb­li­cher Einfluss der Kahlschläge

Bruch­tor­wall. Links das Gebäude der ehema­ligen Reichs­bank. (Landes­zen­tral­bank). Foto: Stadt­ar­chiv

In der Diskus­sion des Landtags dagegen stand ein Thema an der Spitze der Ursachen­ver­mu­tungen für die Katastrophe: „Verderb­li­cher Einfluss der Kahlschläge. Als wesent­liche Ursache für den unerwar­teten Umfang der Katastrophe bezeich­nete Professor Frohne die Kahlschläge im Harz, deren sonst Wasser saugender Moosboden bereits heute fortge­schwemmt sei. Diese Tatsache müsse umso mehr Sorgen erregen, da man mit weiteren Abhol­zungen rechnen müsse.“

Hervor­ge­hoben in allen Diskus­sionen und in öffent­li­chen Verlaut­ba­rungen wurden aber der Gemein­schafts­sinn sowie Zusam­men­halt der Bevöl­ke­rung und der Flücht­linge, vor allem die tatkräf­tige Unter­stüt­zung der engli­schen Besat­zungs­truppen. Dieser Zusam­men­halt galt für alle Regionen im Land Braun­schweig und war letztlich hilfreich für die Bewäl­ti­gung der Katastrophe zwischen dem 8. und 11. Juni 1946.

Über die weiteren Hochwas­ser­ka­ta­stro­phen der Folge­jahre berichtet „Der Löwe“ demnächst.

Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte und Geschichts­ver­mitt­lung an der TU Braun­schweig.

 

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