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Stadtraum als Symphonie

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Verschwundene Kostbarkeiten, Teil 11: Die Platzfolge Wollmarkt – Alte Waage stellt eine städtebauliche Besonderheit Braunschweigs dar.

Wollmarkt, Blick von Norden auf St. Andreas, 1893. Foto: aus C. Uhde: Braunschweigs Baudenkmäler, 1893

Im einstigen Weichbild Neustadt hatte sich das spätmittelalterliche Stadtbild Braunschweigs bis zur fast vollständigen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg eindrucksvoll erhalten. Das Quartier lag inmitten des Feuersturms vom 15. Oktober 1944. Diese von Menschen gemachte Katastrophe löschte die Fachwerksubstanz in der gesamten nördlichen Innenstadt vollständig aus. Daher ist der Verlust an stadtgeschichtlicher Dimension hier besonders gravierend.

Alte Waage mit St. Andreas, rechts Haus Alte Waage 24/25, 1893. Foto: aus C. Uhde: Braunschweigs Baudenkmäler, 1893

Die Platzfolge Wollmarkt – Alte Waage bildet bis heute das Zentrum der Neustadt. Der Wollmarkt stellt als straßenförmiger Markt eine Besonderheit im städtebaulichen Gefüge dar – andere Marktplätze wie Altstadtmarkt und Hagenmarkt zeigen eine rechteckige Form. Die Frage nach den Gründen für diese in Braunschweig einzigartige Platzgestalt ist nicht eindeutig zu beantworten. Möglicherweise handelte es sich um eine ältere Vorstadt, die schließlich in die planmäßig nach 1200 angelegte Neustadt integriert wurde. Ein Indiz für diese Annahme könnte ein im späten 19. Jahrhundert ergrabener Vorgängerbau der Andreaskirche sein. Es handelte sich um einen kleinen Sakralbau, dessen Architektur mit zahlreichen Dorfkirchen der Region vergleichbar war.

Eines der eindrucksvollsten Stadtbilder

Blick vom Andreasturm auf den Platz alte Waage, um 1930. Foto: aus H. Flesche, Brunswiek, 1932/33

Die Grundrissstruktur der Neustadt zeigte eine weitere Besonderheit. Vom Radeklint ausgehend zielte ein Straßendreistrahl auf Wollmarkt, Alte Waage und Küchenstraße. Diese Situation ist heute teilweise überbaut. Die Perspektive durch die mittlere der Straßen (Weberstraße) auf die Turmfassade der Andreaskirche gehörte zu den eindrucksvollsten Stadtbildern im alten Braunschweig.

Wollmarkt und Alte Waage stellten sich als besonderes städtebauliches Kleinod dar. Platzkanten und sorgfältig platzierte Solitärbauten fügten sich zu einem köstlichen Raumbild. Während die westliche Platzfront fast gerade verläuft, bildet die östliche Seite einen flach eingezogenen Bogen. Dort springt der wuchtige Westbau von St. Andreas vor und teilt die Platzfolge in zwei Abschnitte im Verhältnis 1:2. Von besonderem Gewicht ist die freistehend seitlich des Turmwerks errichtete Alte Waage – damit gliedert sich der Stadtraum spannungsvoll in den weiträumig erscheinenden Wollmarkt und den einst intimer wirkenden Nebenplatz Alte Waage. Im Norden des Wollmarktes befand sich das Neustadttor.

Haus Alte Waage 2 mit Inschrift von 1435. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmalpflege

Haus Alte Waage 13, um 1925. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmalpflege

Unvollendete Westfassade von St. Andreas

Absolute Dominante ist bis heute die unvollendet gebliebene Westfassade von St. Andreas mit ihrem wuchtigen Unterbau und der nach oben hin immer filigraner gestalteten spätgotischen Architektur von Glockenstube und Südturm.

Dieser Turm war nach Vollendung im Jahr 1544 mit 122 Meter Höhe für wenige Jahre einer der höchsten deutschen Kirchtürme – bis die Turmspitze durch ein Unwetter zerstört wurde. Heute ist der Südturm mit der 1742 errichteten Barockhaube der höchste Kirchturm Braunschweigs und ein Wahrzeichen der Stadt.

Haus Wollmarkt 1, um 1930. Foto: aus H. Flesche, Brunswiek, 1932/33

Auch wenn die 1534 errichtete Alte Waage als der wohl bekannteste Fachwerkbau Braunschweigs galt – hatte sich an den beiden Plätzen bis 1944 ein Ensemble weiterer Fachwerkhäuser von ungewöhnlicher Qualität erhalten. Zu den kleineren aber hochbedeutenden Denkmälern gehörte das Haus Alte Waage 2 mit seiner bemerkenswerten Inschrift von 1435 – nach dem erhaltenen Haus Ackerhof 2 im Magniviertel war dies die zweitälteste Fachwerkinschrift in der Löwenstadt.

Haus Wollmarkt 2, um 1930. Foto: aus H. Flesche, Brunswiek, 1932/33

Das mit den zeittypischen Treppenfriesen verzierte Haus Alte Waage 13 ließ sich 1526 der Baumeister Barward Tafelmaker als Wohnsitz errichten. Sein Hauptwerk war – und ist – der Südturm von St. Andreas gleich gegenüber! Zu den größten spätmittelalterlichen Bürgerhäusern Braunschweigs gehörten Alte Waage 24/25 von 1469 sowie Wollmarkt 1 (errichtet 1524, mit Kemenate) und 2 (Baujahr 1509). Ein hochkarätiger Bau war auch das aus dem frühen 16. Jahrhundert stammende und mit gotischen Maßwerkmotiven sowie Figurenknaggen gestaltete Haus Alte Waage 20.

Gesicht der Neustadt blieb bis 1944 erhalten

Als im späten 19. Jahrhundert in großen Teilen des Stadtzentrums alte Bausubstanz durch neue Wohn- und Geschäftshäuser im Stil des Historismus ersetzt wurden, blieb die Neustadt davon weitgehend unberührt. An Wollmarkt und Alte Waage entstanden an der östlichen Platzfront nur vereinzelte Neubauten. 1936/37 wurde anstelle mehrerer Häuser an der Alten Waage eine Berufsschule errichtet.

Alte Waage, 2020. Foto: E. Arnhold

Die Baumaßnahme stand in Zusammenhang mit der während der Zeit des „Dritten Reiches“ angelaufenen Stadtsanierung im Bereich zwischen Lange Straße und Beckenwerkerstraße nach Plänen des Hochschullehrers Hermann Flesche. Die seinerzeit angestrebte Schaffung von „Stadthygiene“ folgte selbstverständlich auch ideologischen Vorgaben der Nationalsozialisten. Teile des Schulbaus sind mit ihrer Natursteinfassade bis heute erhalten.

Alte Waage 20, vor 1944. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmalpflege

Im Zuge des Wiederaufbaus versuchte man, die Proportionen der Platzfolge mit schlichten und schmucklosen Gebäuden der 1950er Jahre zu wahren. Leider wurde an mehreren Stellen die Bauflucht zurückgenommen und der ursprünglich enge Zugang zur Alten Waage von Süden deutlich aufgeweitet – was zum Verlust der räumlichen Geschlossenheit führte. 1991-1994 erfolgte der Wiederaufbau der Alten Waage und anschließend eine Neugestaltung der Platzfolge. Damit konnte das städtebauliche Ensemble deutlich aufgewertet werden.

Elmar Arnhold ist Bauhistoriker (Gebautes Erbe) und Stadtteilheimatpfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröffentlicht er regemäßig Beiträge zu historischen Bauten in Braunschweig.

Wollmarkt, 2020. Foto: E. Arnhold

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