Im Schatten von St. Martini

An der Martinikirche 5, Ostfassade, vor 1888. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmalpflege

Verschwun­dene Kostbar­keiten, Folge 30: Heyden­straße, Sonnen­straße und Turnier­straße

Die Tradi­ti­ons­insel Altstadt­markt verkör­pert das einstige bürger­lich-patri­zi­sche Zentrum der Hanse­stadt Braun­schweig. Marti­ni­kirche, Altstadt­rat­haus, Marien­brunnen und Gewand­haus gehören zu den hochbe­deu­tenden mittel­al­ter­li­chen Baudenk­mä­lern der Löwen­stadt. Nach den gravie­renden Zerstö­rungen des Zweiten Weltkrieges konnten der histo­ri­sche Markt der Altstadt und das Umfeld von St. Martini wieder­her­ge­stellt werden. Zwar nicht in der alten Form, aber auch die Neuge­stal­tungen zeigen einen tradi­ti­ons­be­wusst-schöp­fe­ri­schen Umgang mit baukul­tu­rellen Werten.

Im Schatten des romani­schen Turmwerks von St. Martini existierten neben den erhal­tenen oder wieder­auf­ge­bauten Denkmä­lern weitere nicht mehr vorhan­dene Bauten von hohem Rang. Sie kündeten von der sozialen Stellung des im Zentrum des Weich­bildes Altstadt gelegenen Quartiers. Die Anlage von Altstadt­markt und Kirchhof reicht in das 12. Jahrhun­dert zurück. Die recht­eckigen Umrisse der Platz­folge von Markt und Kirch­platz weist auf die planmä­ßige Entste­hung dieser Gesamt­an­lage hin. Sie ist in der Literatur zur Stadt­bau­ge­schichte des Mittel­al­ters mehrfach als exempla­risch heraus­ge­hoben worden.

Ehema­liges Portal An der Marti­ni­kirche 5, heutige Situation. Foto: E. Arnhold

Querschnitt der Bauge­schichte

Es liegt nicht nur an den Folgen des Zweiten Weltkrieges, dass heute zahlreiche der bemer­kens­werten Häuser im Umkreis von St. Martini nicht mehr existieren. Schon der Bauboom der „Gründer­jahre“ nach 1871 hat Lücken in den Bestand gerissen. So fiel das markante Eckhaus An der Marti­ni­kirche 5 gegenüber der wuchtig aufra­genden Kirchen­fas­sade bereits 1888 dem Abbruch anheim – das prächtige Renais­sance­portal wurde immerhin an ein Neben­ge­bäude des Altstadt­rat­hauses versetzt. Das Haus präsen­tierte sich als mächtiger dreige­schos­siger Bruch­steinbau, in dessen Giebel zur Sonnen­straße noch Säulen­fenster aus dem 13. Jahrhun­dert erhalten waren. Das Anwesen wurde in der Zeit um 1600 (Portal) und ein Jahrhun­dert später noch einmal barock umgebaut. Auf letztere Neuge­stal­tung gingen die Bogen­fenster im Erdge­schoss (Messge­wölbe) und das Fachwerk-Zwerch­haus mit Ladeluke und Winden­an­lage zurück. Ein Haus, das sich als Querschnitt durch die Bauge­schichte unserer Stadt präsen­tierte.

Zeitty­pi­sche Backstein­ar­chi­tektur

Mit kostbaren Baudenk­mä­lern wartete auch die Heyden­straße auf. Die kurze Straße ist nachweis­lich seit 1391 nach der Patri­zi­er­fa­milie von der Heyde benannt und verbindet Marti­ni­kirchhof mit Gülden­straße. An ihrer Südseite stand bis zum Abbruch in den 1880er Jahren ein spätmit­tel­al­ter­li­cher Fachwerkbau mit steinernem Unterbau, der Fachwerkstock war mit der Jahres­zahl 1470 datiert. Mit seinen Neben­ge­bäuden bildete das Anwesen Heyden­straße 2 einen ausge­dehnten Hofkom­plex. Anschlie­ßend an das Vorder­haus erstreckte sich ein ungewöhn­lich langer Flügelbau mit reichem Schnitz­werk der Frühre­nais­sance (Baujahr 1531). Den südlichen Abschluss des Hofes bildete ein wiederum älterer Speicherbau mit hoch aufra­gendem Sattel­dach. Die Gebäude beher­bergten seit dem begin­nenden 18. Jahrhun­dert bis zum Abbruch das Stift St. Thomae. Heute steht dort die 1887 errich­tete ehemalige Mädchen­mit­tel­schule in zeitty­pi­scher Backstein­ar­chi­tektur (heute Volks­hoch­schule Braun­schweig).

Turnier­straße 8, Kemenate Heyden­straße, um 1900. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Ein Opfer der Kriegs­zer­stö­rungen hingegen wurde die Eckbe­bauung der Heyden­straße zur Turnier­straße. Das Vorder­haus Turnier­straße 8 war laut Inschrift 1507 entstanden und zeigte an den Schwell­balken des vorkra­genden Oberge­schosses Treppen­friese. Es bildete als Fachwerk­haus einen beson­deren Akzent in der reprä­sen­ta­tiven barocken und klassi­zis­ti­schen Nachbar­schaft am einstigen Kirchhof – die einstige Fürst­liche Kammer (1764) und das 1990–94 wieder­auf­ge­baute Landschaft­liche Haus (Amtsge­richt) prägen das Platzbild nach wie vor. Auf das spätmit­tel­al­ter­liche Eckhaus folgte an der Heyden­straße die zugehö­rige Kemenate. Sie bildete wieder eine Collage Braun­schweiger Bauge­schichte. Das im 13. Jahrhun­dert errich­tete Steinwerk erhielt im Erdge­schoss zu Beginn des 16. Jahrhun­derts Fenster mit Vorhang­bögen, während das erste Stockwerk im Stil der Spätre­nais­sance erneuert wurde. Damit entstand um 1600 auch das reich beschnitzte Oberge­schoss aus Fachwerk.

Bemer­kens­werte Fakten

Bis heute erhalten blieb an der Heyden­straße das größte mittel­al­ter­liche Steinhaus der Stadt, welches zu den Gebäuden des Staat­li­chen Bauma­nage­ments An der Marti­ni­kirche 7 gehört. Das Alter des Bauwerks ist an der mit einem Renais­sance­portal ausge­stat­teten Fassade jedoch nicht mehr erkennbar, da im 18. Jahrhun­dert die letzten Säulen­fenster beseitigt wurden. Die mächtigen Balken eines dortigen Keller­raums konnten dendro­chro­no­lo­gisch mit 1274 datiert werden. Es zeigt sich, dass bauge­schicht­liche Forschung auch in einer stark zerstörten Stadt wie Braun­schweig noch immer bemer­kens­werte Fakten schaffen kann.

Mittel­al­ter­li­ches Steinhaus Heyden­straße, Südwest­an­sicht. Foto: E. Arnhold

Schönes Renais­sance­portal

Ein weiteres altes Steinhaus ist in Sicht­weite von St. Martini mit Turnier­straße Nr. 6 erhalten geblieben. Es konnte in den um 1990 errich­teten Komplex der Staats­an­walt­schaft einbe­zogen werden und zeigt ein schönes Renais­sance­portal. Spekta­kulär ist der leider nicht zugäng­liche Gewöl­be­keller mit seinen wuchtigen Rundpfei­lern. Unwie­der­bring­lich verloren ist dagegen der ungemein reizvolle Hof von Turnier­straße 6. Histo­ri­sche Fotogra­fien zeigen, dass die aus der Renais­sance­zeit stammenden Fachwerk-Speicher­bauten bis in die 1940er Jahre ihrem ursprüng­li­chen Zweck dienten.

Sonnen­straße 4, Hofsi­tua­tion, um 1880. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Ein ähnlich maleri­scher Innenhof erschloss sich hinter dem statt­li­chen Renais­sance-Fachwerk­haus Sonnen­straße 4. Eines der großen Hofge­bäude aus dem 16. Jahrhun­dert besaß eine hölzerne Freitreppe mit kleiner Hofga­lerie – eine in vorin­dus­tri­ellen Zeiten wohl gar nicht so seltene Situation in der alten Stadt. Solche Hofan­lagen werfen den Blick selbst­ver­ständ­lich auch auf die einst beengt-beschei­denen Wohnver­hält­nisse besonders der ärmeren Bevöl­ke­rungs­schichten, die in den alten Quartieren der Innen­stadt leben mussten. In der heutigen Zeit wären derartige Ensembles in saniertem Zustand hingegen eine Attrak­tion ersten Ranges … Große Teile der Hofbe­bauung waren jedoch schon um 1900 abgebro­chen worden.

Elmar Arnhold ist Bauhis­to­riker (Gebautes Erbe) und Stadt­teil­hei­mat­pfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröf­fent­licht er regel­mäßig Beiträge zu histo­ri­schen Bauten in Braun­schweig.

 

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