Eine Schlucht im urbanen Hochge­birge

Gesamtansicht des Meinhardshofs von Süden, um 1940.Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmalpflege

Verschwun­dene Kostbar­keiten, Teil 10: Der Meinhardshof – einstige Inkunabel des alten Braun­schweigs.

Meinhardshof und St. Andreas von Süden, 2022. Foto: Elmar Arnhold

Wohl kein Straßenzug des histo­ri­schen Braun­schweigs ließ das Fluidum von „Altstadt­ro­mantik“ so sehr verströmen wie der Meinhardshof. Das Abbild dieser einst schmalen und gewun­denen Straße ist in unzäh­ligen künst­le­ri­schen Darstel­lungen und Fotogra­fien überlie­fert, es war eine Inkunabel der alten Stadt. Die vorsprin­genden Oberge­schosse der Fachwerk­häuser mit ihren wechselnden Trauf­höhen und Dachnei­gungen führten ein Versteck­spiel mit Licht und Schatten. Eine Schlucht im urbanen Hochge­birge.

Der Meinhardshof verlief (und verläuft) von Süd nach Nord zwischen Schild und Küchen- sowie Lange Straße. An seinem nördli­chen Ende öffnete sich einst der eindrucks­volle Blick in Richtung Alte Waage und Andre­as­kirche – ein städte­bau­li­ches Überra­schungs­mo­ment ersten Ranges. Im heutigen Stadtbild lebt der Straßen­name zwar fort, bezeichnet jedoch nurmehr eine kurze und überbreite Stich­straße, die in erster Linie zur Erschlie­ßung einer Tiefga­rage dient. Das einst so reizvolle Stadt­quar­tier ist während des Bomben­an­griffs vom 14./15. Oktober 1944 restlos unter­ge­gangen.

Meinhardshof, mittlerer Teil von Süden. Foto: aus Uhde, Braun­schweigs Baudenk­mäler, 1893

Einen Meinhard gab es nicht

Nordteil des Meinhards­hofs mit Blick zur Küchen­straße, um 1940. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Mit der Bezeich­nung „Meinhardshof“ kommt die gedank­liche Verbin­dung zu dem Eigen­namen „Meinhard“ ins Spiel. Könnte dort ursprüng­lich das Anwesen einer gleich­na­migen Person existiert haben? Tatsäch­lich bestehen Hinweise darauf, dass sich hier im Spätmit­tel­alter eine Hofanlage befand, aller­dings nicht der Hof einer Person oder Familie namens Meinhard: Aus dem Jahr 1320 ist die Benennung „Emberns Hof“ überlie­fert, spätere Bezeich­nungen lauteten Membernshof und Meymershof. Seit dem 18. Jahrhun­dert ist der Straßen­name Meinhardshof üblich. Bei einem Blick auf die histo­ri­sche Parzel­lie­rung fallen am Meinhardshof eher klein­teilig zugeschnit­tete und verschach­telte Parzellen ins Auge. Anderer­seits existierten seit dem Mittel­alter am nördli­chen Rand des Weich­bildes Altstadt an der Straße Hintern Brüdern mehrere umfang­reiche Hofan­lagen. Eine davon stiftete die Familie von Bortfeld nach 1223 dem jungen Franzis­ka­ner­orden für die Errich­tung des Brüdern­klos­ters.

Im Rahmen der in den vergan­genen Jahrzehnten erfolgten archäo­lo­gi­scher Grabungen konnte der Verlauf der nördli­chen Stadt­be­fes­ti­gung der Weich­bilde Altstadt und Sack erschlossen werden. Mauer und Graben verliefen nördlich der Petri­kirche, quer über den Meinhardshof und entlang der nach Osten abzwei­genden Jödden­straße. Somit kreuzten Mauer­ver­lauf und Weich­bild­grenze zwischen Sack und Neustadt diesen Straßenzug. Die Grenze zwischen den mttel­al­ter­li­chen Teilstädten konnte bis zur Zerstö­rung anhand der Grund­stücks­grenzen noch abgelesen werden. Mögli­cher­weise existierte am Meinhardshof ein Mauertor, um von der Altstadt in den Bereich einer Vorstadt­sied­lung zu gelangen, die später im Weichbild Neustadt aufging. Nach Einbe­zie­hung der Neustadt in die Gesamt­be­fes­ti­gung Braun­schweigs (nach 1200) wurde die Stadt­mauer zwischen den Weich­bilden abgetragen.

Geschlos­senes Ensemble mit Fachwerk­bauten

Blick aus der Küchen­straße auf Alte Waage und St. Andreas. Foto: aus Uhde, Braun­schweigs Baudenk­mäler, 1893

Bis zur Kriegs­zer­stö­rung hatte sich am Meinhardshof ein geschlos­senes Ensemble mit Fachwerk­bauten aus dem 15. bis 18. Jahrhun­dert erhalten. Jüngere Gebäude aus der Zeit des wirtschaft­li­chen Aufschwungs in den „Gründer­jahren“ des späten 19. Jahrhun­derts waren hier nicht zu finden. Ein Großteil der Häuser stammte aus den „klassi­schen Epochen“ des nieder­säch­si­schen Fachwerk­baus in der Zeit zwischen 1450 und 1650 (Spätgotik und Renais­sance). Es handelte sich durch­ge­hend um Traufen­häuser, die mit ihrer Dachseite zur Straße ausge­richtet waren. Eine trauf­stän­dige Bebauung ist typisch nicht nur für das alte Braun­schweig, sondern für die Altstädte im gesamten Harzraum und im Harzvor­land.

Einmün­dung des Meinhardshof auf Küchen- und Lange Straße, um 1900. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Die Gebäude zeigten in der Regel hohe Dielen­erd­ge­schosse mit Zwischen­ge­schossen sowie kräftig auskra­gende Stock­werke und steile Dächer. Oberge­schosse und Dachräume wurden ursprüng­lich als Speicher­stöcke genutzt. Die unter­schied­li­chen Epochen waren in erster Linie anhand der Schnit­ze­reien zu erkennen. Auf die spätgo­ti­schen Treppen­friese folgten Rosetten und Facett­bänder der Renais­sance. Die Häuser des 18. und frühen 19. Jahrhun­derts zeigten dann glatte Fassaden ohne Schnitz­werk und höhere Stock­werke. Manches Gebäude hatte einen nachträg­li­chen Dachaufbau (Zwerch­haus) erhalten oder war in den Jahren um 1800 verputzt worden.

Wohnstraße mit kleinen Geschäften

Blick in den Meinhardshof nach Süden, um 1930. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Am Meinhardshof dominierte eine eher klein­bür­ger­liche Bebauung. Daraus hervor ragte das genau gegenüber der Einmün­dung der Jödden­straße situierte Haus Meinhardshof 11. Der statt­liche Fachwerkbau der Frühre­nais­sance stammte von 1543 und besaß über seinem hohen Unterbau aus Erd- und Zwischen­ge­schoss zwei auskra­gende Stock­werke – die ursprüng­li­chen Speicher. Über der Traufe war die ursprüng­liche Ladevor­rich­tung für den Aufzug von Speichergut erhalten. Im Inneren existierte bis zur Zerstö­rung noch eine geräumige und hohe Diele. Das tiefe und winklig geschnit­tene Grund­stück von Meinhardshof 11 ging mögli­cher­weise auf die einstige Hofanlage der Embern zurück.

Haus Meinhardshof 11, um 1930. Foto: aus Rudolf Fricke, Bürger­haus in Braun­schweig, 1975

In den Jahrzehnten vor der Zerstö­rung zeigte sich der Meinhardshof als Wohnstraße mit kleinen Geschäften und Handwerks­be­trieben. Ein Vorspiel der Vernich­tung war die Bestim­mung des Geschäfts­hauses der jüdischen Familie Kohn (Meinhardshof 3) zu einem Judenhaus durch die Natio­nal­so­zia­listen – hier wurden jüdische Mitbürger zusam­men­ge­pfercht, bevor man sie 1943 nach There­si­en­stadt depor­tierte. Ein Jahr später ging mit dem gesamten Stadt­quar­tier auch der Meinhardshof vollständig in Flammen auf.

Der Meinhardshof in einem Stadtplan von 1766. Foto: Nieders. Landes­ar­chiv Wolfen­büttel

Die heutige Situation am und um den Meinhardshof zeichnet sich durch besondere Unwirt­lich­keit aus. Sie ist einer­seits durch die einsei­tige Ausrich­tung des unmäßig aufge­wei­te­teten Freiraums auf den Indivi­du­al­ver­kehr und anderer­seits von einer gestal­te­risch mehr als dürftigen Bebauung aus den Jahren um 1980 gekenn­zeichnet. Wie ein Leucht­turm markiert St. Andreas noch immer das Zentrum der ehema­ligen Neustadt.

Elmar Arnhold ist Bauhis­to­riker (Gebautes Erbe) und Stadt­teil­hei­mat­pfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröf­fent­licht er regemäßig Beiträge zu histo­ri­schen Bauten in Braun­schweig.

 

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