Der Traum vom schönen neuen Leben

Das Glasmuseum Boffzen befindet sich in einer ehemaligen Unternehmer-Villa.
Das Glasmuseum Boffzen befindet sich in einer ehemaligen Unternehmer-Villa.

Eine Reise ins Weser­berg­land auf den Spuren der 1950er Jahre: Glasmu­seum Boffzen und Museum Schloss Fürsten­berg.

„Herrliche Uferstraßen mit alten Bäumen, oft mühsam zwischen Berg, Wald und Fluß gedrängt, bannen und öffnen den Blick für immer neue Bilder.“ So beschrieb Autor Fritz Seifert 1952 seine Reise durch das Weser­berg­land. Manches hat sich seitdem verändert, vieles nicht: Noch immer liegt die Gegend malerisch und ein wenig fern der Haupt­ver­kehrs­wege. Boffzen, einer der Orte an der Weser, ist seit 1866 für ein Produkt bekannt: Gläser für Lebens­mittel. Neben der alten und der neuen Glashütte gibt es ein Museum: Dort lassen sich in einer Sonder­aus­stel­lung die 1950er Jahre entdecken.

Die Gründer­zeit­villa mit ihrem roten Solling-Sandstein und dem Fachwerk umgibt ein kleiner parkähn­li­cher Garten. „Glasmu­seum“ steht auf einem Pfeiler. Die Ausstel­lung „Wie neu beginnen?“ im Oberge­schoß führt zurück in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Im nun geteilten Deutsch­land hatten viele Menschen vieles verloren – das Leben, ihr Hab und Gut, ihre Arbeit. Wie sollte nun neues Design entstehen und nach dem Natio­nal­so­zia­lismus aussehen? Wie Trink­gläser, Vasen oder Schalen gestaltet sein? Zehn Designer, die in Ost und West nach Antworten auf diese Fragen suchten, stellt das Museum vor.

Die erste Infor­ma­ti­ons­tafel der Ausstel­lung zeigt ein schwarz-weiß Foto von Wilhelm Wagenfeld, wie er in seiner Werkstatt konzen­triert an einem Metall-Modell feilt. Der Bauhaus-Schüler und Pionier des Industrie-Designs prägte mit seinen Glasent­würfen die 1930er bis 1960er Jahre. Er hatte seit 1935 die Verei­nigten Lausitzer Glaswerke, einen der größten deutschen Hersteller, künst­le­risch geleitet. Nach dem Zweiten Weltkrieg zog er in den Westen und gründete in Stuttgart seine Entwurfs­werk­statt. Erneut skizzierte er Gläser, fertigte passende Gips-Modelle. Peill & Putzler, Rosenthal und WMF stellte diese Entwürfe in ihren Glashütten her.

An Wagen­felds Vorbild orien­tierten sich die Gestalter, die in Boffzen zu sehen sind: seine ehema­ligen Schüler und Mitar­beiter Friedrich Bundtzen, Elsa Fischer-Treyden und Heinrich Löffel­hardt. Oder seine Kollegen, die ebenso schlichtem funktio­nalem Design verbunden waren: Hans-Theo Baumann, Wilhelm Braun-Feldweg, Ilse Decho, Aloys F. Gangkofner und Richard Süßmuth.

Wer die Räume der Villa mit dem dunklen Holzfuß­boden durch­wan­dert und die Gläser in den Vitrinen ansieht, dem fällt viel Gemein­sames auf: Vasen und Gläser, die sich an einer markanten Stelle verjüngen. Sie erinnern an das Jonglier-Spiel Diabolo. Mit ein wenig Phantasie könnte dem Betrachter die Mode der 1950er Jahre mit den schmalen Taillen und den weiten Petti­coats in den Sinn kommen. Wilhelm Braun-Feldweg fragte in seinem Buch „Normen und Formen indus­tri­eller Produk­tion“ 1954: „Strom­li­nien an der Kaffee­ma­schine – nieren­för­mige Tische – surrea­lis­ti­sche Spinn­weben als Dekora­tion und eine ängst­liche Abkehr vom rechten Winkel: kennzeichnen diese Merkmale tatsäch­lich ein Formemp­finden unserer Zeit?“  Ganz sicher machte dies einen wichtigen Teil des damaligen Geschmacks aus.

Die Designer, die in Boffzen zu sehen sind, suchten zeitlose Formen und Schliffe. Einigen Entwürfen gelingt dies, so der roten Vase von Braun-Feldweg, die aussieht wie eine Kalabasse oder Wagen­felds Keksdose für WMF. Sie könnten noch heute Käufer anspre­chen. Wenn es die Glashütten noch geben würde, die sie einst produ­zierten. Mit den 1950er Jahren begann das letzte Jahrzehnt, in dem  Glasbläser Kelche formten, nicht allein Maschinen. Am Ende der Ausstel­lung hängt an der Wand ein kleiner Bilde­rahmen mit einem unschein­baren Weinglas. Es war das erste seiner Art in Deutsch­land, das vollau­to­ma­tisch entstand. Das Unter­nehmen Schott Zwiesel entwi­ckelte es mit dem Gestalter Heinrich Löffel­hardt Ende der 1950er Jahre. Wer sich Zeit nimmt und die Firmen­por­träts ansieht, wird feststellen: Nur diese Firma stellt heute noch selbst Glas her.

Maschinen statt Handwerk, diese Frage musste sich auch die drei Kilometer entfernte Porzel­lan­ma­nu­faktur Fürsten­berg in dieser Zeit stellen. Ihr damaliger Leiter, Otto Wiese, entschied, das Handwerk zu betonen: Die Porzel­lan­fa­brik der 1930er Jahre sollte sich am Markt nun als Manufaktur positio­nieren. Das erste Nachkriegs­jahr­zehnt wurde Dank des Wirtschafts­wun­ders eines der erfolg­reichsten des Unter­neh­mens. 1957 entstand im ehema­ligen Jagdschloss des Braun­schweiger Herzogs das Museum der Porzel­lan­ma­nu­faktur, dessen gerade vollendete Restau­rie­rung von der Braun­schwei­gi­schen Stiftung gefördert wurde.

Im März hat es gerade neu eröffnet. Es zeigt im ersten Oberge­schoß auch Entwürfe der 1950er Jahre. Sie spiegeln deutlich den Zeitgeist wieder: phanta­sie­volle Schmuck­bänder und Pastell­farben schmücken die Service. Eine Form fällt aus dem Rahmen – das Teeser­vice des Braun­schweiger Profes­sors der Kunst­hoch­schule und Bildhauers, Bodo Kampmann. Es erinnert an Asien: Die Kanne besitzt seitlich einen geraden Griff statt eines Henkels, dazu gibt es Teeschalen statt ‑tassen. Der Entwurf brachte der Manufaktur Ehre ein: Sie erhielt die Silber­me­daille auf der Design-Ausstel­lung Triennale in Mailand 1957.

Nach dem Besuch, zurück auf dem Schlosshof, lohnt ein entspannter Blick über die Brüstung ins weite Tal: Die Weser mäandert in dunklem Blau, dahinter erheben sich grün bewaldete Mittel­ge­birge. Ab und zu fährt gemäch­lich ein Dampfer mit Ausflugs­gästen vorbei. Oder ein Rotmilan zieht seine Kreise auf der Mäusejagd. An dieser Aussicht hat sich seit den 1950er Jahre fast nichts geändert.

Mehr Infor­ma­tionen:

Die Ausstel­lung „Wie neu beginnen? Glas der 1950er Jahre aus Deutsch­land“ ist noch bis zum 30. Oktober 2017 zusehen.

Glasmu­seum Boffzen

Bahnhof­straße 9c
37691 Boffzen
Telefon: (05271) 4 99 09 oder (05271) 95 60 – 0
E‑Mail: glasmuseum@boffzen.de
Internet: www.glasmuseum-boffzen.de

Öffnungs­zeiten: Mittwoch 14 – 17 Uhr, Samstag und Sonntag 11 – 17 Uhr, Sonder­öff­nungs­zeiten auf Anfrage.

Eintritts­preise: 3,50 Euro,  Kinder und Jugend­liche (bis 16 Jahre) 1,50 Euro, Gruppen­preise und Führungen auf Anfrage.

Museum Schloss Fürsten­berg

Meinbrexener Str. 2
37699 Fürsten­berg
Telefon: (05271) 966778–10
E‑Mail: museum@fuerstenberg-schloss.com
Internet: www.fuerstenberg-schloss.com

Öffnungs­zeiten: Dienstag bis Sonntag sowie Feiertage: 10 – 17 Uhr (05. März – 05.November 2017)

Eintritts­preise: 8,50 Euro , Kinder (7 bis 15 Jahre)  5,50 Euro,  Familien (2 Erwach­sene, bis zu 3 Kinder bis 15 Jahre) 20 Euro.

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