Ein Stück mehr Freiheit für Geflüch­tete

Michael Heinrich (rechts) und Klaus Bartsch reparieren Fahrräder für Geflüchtete. Foto: Andreas Greiner-Napp
Michael Heinrich (rechts) und Klaus Bartsch reparieren Fahrräder für Geflüchtete. Foto: Andreas Greiner-Napp

Ehren­amt­liche in der Fahrrad­werk­statt Kralen­riede peppen alte Räder wieder auf und stellen sie für 10 Euro Pfand Asylbe­wer­bern zur Verfügung.

Es ist nicht einfach für Menschen, die aus großer Entfer­nung und anderen Kultur­kreisen zu uns kommen, sich in ihrer neuen Umgebung zurecht­zu­finden und sie schätzen zu lernen. Die  Landes­auf­nah­me­be­hörde in Kralen­riede, die erste Station für Geflüch­tete in Braun­schweig, liegt nicht gerade zentral. Bis zur Stadt­mitte, bis zu den Ämtern, bis dorthin, wo sich das städti­sche Leben abspielt, bis in die Naherho­lungs­ge­biete, wo man etwas Abstand vom Gesche­henen finden könnte, ist es eine ganze Ecke. Natürlich können die Strecken auch mit Bus und Bahn bewältigt werden, aber indivi­du­elle Mobilität mit einem Fahrrad ist etwas anderes, ein gutes Stück mehr Freiheit für die Geflüch­teten. So ein Fahrrad bedeutet ist auch Lebens­qua­lität.

Diese Erkenntnis hatte Michael Heinrich bereits im Jahr 2015. Seither betreibt der 72-Jährige die Fahrrad­werk­statt in Kralen­riede mit enormem Engage­ment. Es ist seine Idee. Er sammelt alte, marode Fahrräder, die ihm zur Verfügung gestellt werden, peppt sie vor allem gemeinsam mit Klaus Bartsch, einem begna­deten Schrauber, und Dr. Horst Jürgen auf und stellt sie für 10 Euro Pfand Asylbe­wer­bern zur Verfügung. Häufig helfen ihm Geflüch­tete beim Reparieren, es war auch schon mal ein Fahrrad­me­cha­niker aus Syrien dabei. Das war ein Segen, aber die Geflüch­teten bleiben ja nicht lange in der LAB.

„Ich habe in meinem Leben sehr viel Glück gehabt. Aus Dankbar­keit dafür möchte ich der Gesell­schaft etwas zurück­geben“, erklärt Michael Heinrich seinen ehren­amt­li­chen Einsatz, der manchmal schon 15 Stunden und mehr ausmacht. Und der pensio­nierte Diplom-Psycho­loge, dessen Mutter 1945 selbst flüchten musste, fügt an: „Ich habe immer viel mit dem Kopf gearbeitet. Jetzt wollte ich mal etwas mit meinen Händen machen. Etwas Einfaches.“

Ausgangs­punkt seiner Initia­tive war der Höhepunkt der Flücht­lings­krise, als 5000 Geflüch­tete in der LAB unter­kommen mussten. Es gab im Stadtteil steigende Krimi­na­lität, mehr Diebstähle, mehr Einbrüche, auch Überfälle. Die Atmosphäre zwischen den Bewohnern und den Asylbe­wer­bern war, gelinde ausge­drückt, gereizt. Während einer Sitzung im Heinrich-Jasper-Haus schlug Michael Heinrich den Aufbau einer Fahrrad-Werkstatt vor, in der Geflüch­tete arbeiten und einer sinnvollen Beschäf­ti­gung nachgehen könnten und auf der anderen Seite dank der reparierten Fahrräder mobil würden.

Es gab nicht sofort Beifall von allen Seiten, aber das Projekt entwi­ckelte sich zu einer Erfolgs­ge­schichte. Unter­stützt wird es mittler­weile auch von der landes­weiten Initia­tive, die  die Nieder­säch­si­sche Lotto-Sport-Stiftung zusammen mit der Kloster­kammer Hannover unter dem Namen „Stiftungen helfen – Engage­ment für Geflüch­tete in Nieder­sachsen“ ins Leben riefen. Zum Bündnis aus mittler­weile 33 Stiftungen zählen auch die Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz, die Braun­schwei­gi­sche Stiftung, die Bürger­stif­tung Braun­schweig, die Kleider­ver­sor­gung Braun­schweig und die Richard Borek Stiftung.

Heute ist die Fahrrad­werk­statt Kern des Vereins „TRIVT e.V.“, der auch die Begeg­nungs­stätte „Welcome House“ am Stein­rie­den­damm unterhält. Die Abkürzung steht für Toleranz Respekt und Inter­kul­tu­relle Vielfalt. Anfangs hatte Michael Heinrich den Garten seines Wohnhauses zum Fahrrad­lager umfunk­tio­niert, aber das sprengte auf Dauer den Rahmen. Als Lösung fand sich später die kleine, noch immer genutzte  Werkstatt in der Garage nahe des Techno­lo­gie­zen­trums Kralen­riede. Weitere Fahrräder werden mittler­weile in einer Scheune in Waggum zwischen­ge­la­gert. „Ein Ideal­zu­stand ist das natürlich nicht. Perfekt wäre, wenn wir Lager und Werkstatt an einem Standort vereinen könnten, zum Beispiel in Räumen des ehema­ligen Nordbads“, meint Michael Heinrich.

Denn die Hilfs­be­reit­schaft der Braun­schweiger ebbt nicht ab, immer wieder bringen Privat­per­sonen neue „alte Drahtesel“, die mit etwas Geschick wieder funkti­ons­tüchtig werden. Rund 50 Fahrräder werden pro Monat vergeben. Keines davon verlässt den Hof, ohne verkehrs­si­cher zu sein und der Straßen­ver­kehrs­ord­nung zu entspre­chen. Unter­stüt­zung kommt sogar von Braun­schweiger Fahrrad­ge­schäften, die Material spenden, das sie nicht mehr benutzen können. „Beliefert“ werden mittler­weile auch Insti­tu­tion wie das Mütter­zen­trum, die Volks­hoch­schule oder das Rote Kreuz.

Kontakt:

TRIVT e.V. & WELCOME HOUSE, Stein­rie­den­damm 14, 38108 Braun­schweig / E‑Mail: hello@trivt.org / Homepage: www.trivt.org

Michael Heinrich: Telefon 0171–5530555

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