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„Bücherleser wird es immer geben“

Hilke Heimann. Foto: Peter Sierigk
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Hilke Heimann, Arbeitskreis Braunschweiger Jugendbuchwoche e.V., im Interview über die Lesekultur Jugendlicher und die Motivation, eine Jugendbuchveranstaltung mit über 10.000 jungen Menschen zu organisieren.

Nicht „merkeln“ sondern „Smombie“ heißt das Jugendwort des Jahres 2015. Die Neuschöpfung steht für Menschen, die von ihrer Umwelt nichts mehr mitbekommen, weil sie zigmal am Tag auf ihr Smartphone starren. Dabei ist empirisch belegt, dass das Lesen eines guten Buches den Wortschatz viel besser erweitert und die Phantasie eines Kindes oder Jugendlichen mehr anregt als jedes soziale Netzwerk. Dass das Interesse Jugendlicher am Buch trotz voranschreitender digitaler Technik nach wie vor hoch ist, beweist eindrucksvoll die 35. Braunschweiger Jugendbuchwoche 2015 (Motto: „Wilde Bücher“), an der über 10.000 jungen Menschen an 180 Orten teilnehmen werden.

Hilke Heimann, die 1. Vorsitzende des Arbeitskreises Braunschweiger Jugendbuchwoche e.V. und Mitarbeiterin im „bücherwurm – der Kinder- und Jugendbuchladen in Braunschweig“ (Magniviertel), erzählt im Interview über das Leseverhalten junger Menschen, über die Zukunft des gedruckten Buches und über die Beweggründe, sich als Mitorganisatorin zu engagieren.

Frau Heimann, die Braunschweiger Jugendbuchwoche gibt es bereits seit 1981. Wird es angesichts der bunten digitalen Welt nicht immer schwerer, Kinder und Jugendliche für das Lesen altersgerechter Literatur zu begeistern?

Ich denke, die Konkurrenz ist um einiges größer geworden. Man kann heute einfach einiges mehr machen als lesen. Früher gab es vielleicht noch den Kassettenrekorder und zu bestimmter Tageszeit ein Kinderprogramm. Heute ist rund um die Uhr alles verfügbar. Aber mit den Lesungen fängt man diese Kinder halt doch immer wieder ein. Wenn sie den Autoren kennen lernen, der das Buch geschrieben hat, ist es für die Kinder und Jugendlichen eine ganz andere Erfahrung, als ihnen einfach ein Buch in die Hand zu drücken.

Also doch kein Abgesang des Buches in Papierform…

Keinen endgültigen. Sicherlich werden weniger Bücher als früher in gedruckter Form verkauft, das merkt man schon. Das spürt man ja auch bei den Erwachsenen. Immer mehr nutzen einen E-Reader, die digitale Buchform. Aber es wird immer Bücherleser geben. Da bin ich mir ganz sicher.

Der diesjährige Titel der Braunschweiger Jugendbuchwoche lautet „Wilde Bücher“, ein bisschen klingt dies nach der erfolgreichen Filmreihe „Wilde Kerle“. Wie kam es zu diesem Motto?

Vorbild war in dem Moment wirklich ein Buch, in dem ein Junge den Auftrag erhält, ein wildes Buch zu suchen und es geht wirklich um ein ungezähmtes, wildes Buch, das sich auch keinen Regeln unterwirft. Hinter „wild“ verbirgt sich natürlich vieles. Wir haben unter anderem den Duden bemüht und die Synonyme rausgesucht, was „wild“ alles bedeuten kann. Es ist ganz wichtig, dass wir freche Bücher haben, die sich eben nicht irgendwelchen Regeln zwangsläufig unterwerfen. Also „wild“ heißt für uns einfach vielfältig, ungezwungen, frei. Man muss auch nicht überall politisch korrekt sein. Also darf unserer Meinung nach in Pippi Langstrumpf auch noch „Negerkönig“ stehen. Klar muss man vieles in den Kontext setzen, aber „wild“ ist einfach eine große Vielfalt. Wir Menschen sind vielfältig, und dementsprechend müssen die Bücher auch vielfältig sein, um für jeden etwas dabei zu haben.

Um was für Autoren handelt es sich, mit denen die Kinder und Jugendlichen diesmal in Kontakt kommen?

Wir sprechen Autoren deutschlandweit an. Querbeet. Es gibt amüsante, kurzweilige Geschichten, Krimis, Abenteuergeschichten und vieles mehr. Wir behandeln aber auch ernste Themen. Zwei Autoren sind dabei, die sich mit der Thematik „Flüchtlinge“ beschäftigen. Eine Autorin, die sich mit der DDR-Zeit beschäftigt, weil sie selbst in der DDR gelebt hat. Sie bringt dann auch Ihre Stasi-Akte oder zumindest Auszüge aus der Akte mit. Denn so manches Unrecht, das auf der Welt geschehen ist, ist nicht weit weg von uns passiert. Und gar nicht so lange her. Also wirklich das ganze wilde breite Spektrum sozusagen an Büchern, das es so gibt.

Bei Durchsicht des Programmflyers wird schnell deutlich, dass auch ernste Themen behandelt werden wie Krieg und Flucht aus der Heimat…

Ja, also sicherlich brauchen Kinder bis zu einem gewissen Alter ganz viel heile Welt und auch wir Erwachsenen mögen auch gerne mal die seichten, lustigen und netten Geschichten. Aber man unterschätzt, glaube ich, manchmal einfach, wie sehr sich die Kinder auch mit schwierigen Themen auseinandersetzen wollen. Es kommen hier immer mehr Flüchtlinge an, man weiß nicht, wo man sie alle unterbringen soll. Es ist für die Kinder einfach auch Thema und ja, deshalb muss man das auch anbieten. Es gab nun dieses Jahr zwei neue Bücher genau zu dem Thema. Und bei dem einen finde ich es auch sehr schön, weil es eine alte und eine neue Fluchtgeschichte vermittelt. Ein Junge aus Afghanistan und ein Mann, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus Schlesien fliehen musste. Manchmal muss man vielleicht auch wieder in Erinnerung rufen, dass es nicht immer nur die anderen sind, die fliehen, sondern dass eben auch Deutsche, wenn man noch weiter zurückgeht, nach Amerika und woanders hin ausgewandert sind, weil es hier nichts zu essen, zu trinken und zu arbeiten gab. Manchmal muss man vielleicht auch da ein bisschen geschichtlich nachhelfen oder einfach den Fokus darauf richten – und auch erklären.

Wie viele Lesungen wird es geben und an welchen Orten?

Es gibt 12 öffentliche Veranstaltungen dieses Jahr, wo jedermann hinkommen kann. Ansonsten finden die Veranstaltungen vor allem in Schulen statt. Alleine hier gibt es 180 Lesungen. Das bedeutet, dass etwas mehr als 10.000 Kinder mit dem Thema Buch und Lesen in Kontakt kommen werden.

Aber es wird ja nicht nur gelesen. Interaktion heißt das Zauberwort. Was für Aktionen gibt es noch?

Wir haben zum Beispiel Illustratoren im Programm, die eben auch zeichnen. Viele der Autoren sind mittlerweile im Bereich Drehbuch tätig. Das heißt, die haben auch ein Gefühl für Theater, für Film. Und man merkt es, so empfinde ich es, den Büchern oft schon an. Da existiert meist ein guter Spannungsbogen und es wird lebendig erzählt. Da macht sich noch einmal mehr bemerkbar: Lesen ist Kopfkino! Und wir haben auch eine Autorin dabei, die einen Kinderzirkus mitgegründet hat und Seiltänzerin war. Insofern bieten die Autoren ganz unterschiedliche Dinge an.

Wird auch an einer Stelle auf die aktuellen Ereignisse in der Welt eingegangen?

Dies hängt natürlich immer ein bisschen von den Autoren ab. Wenn sie sich grundsätzlich mit kritischen Dingen auseinandersetzen, dann ist es natürlich Thema. Es war gestern Abend auch Thema im Roten Saal. Da habe ich den Terror in Paris angesprochen, weil ich es eben ganz wichtig finde, gerade auch in Anbetracht dessen, dass hier jeden Montag in Braunschweig eine Gruppierung marschiert. Das ist immer so ein bisschen meine Sorge, dass das Klima auch vor Ort vergiftet wird durch das, was in der Welt passiert. Man versucht dann doch so ein bisschen auch einen Gegenpunkt zu setzen, so dass ich auch sage, wir machen diese Veranstaltung, weil wir uns eben auch unser kritisches Denken, Lesen und Schreiben, und genauso die Autoren, einfach nicht verbieten lassen wollen.

Was treibt sie an, ein derartiges Jugendbuchevent wies dieses auf die Beine zu stellen?

Ja, schon die Erfahrung, wie schön und wie wichtig lesen für die Kinder ist. Lesen ist einfach eine ganz wichtige Grundlage für das Leben, sich sprachlich auszudrücken, Und ob das dann später auf digitalem Weg oder im persönlichen Gespräch oder beim Briefe schreiben passiert, ist egal, aber es ist einfach ganz wichtig. Und man merkt ja, wie viel es auch den Kindern gibt. Und es ergibt sich dadurch die Möglichkeit, sich ein bisschen zurück zu ziehen. Man kann auf diese Weise aber auch über den eigenen Tellerrand hinaus gucken. Lesen bietet einfach ganz viele Möglichkeiten. Wir sagen auch immer: Lesen ist Kino im Kopf.

Hintergrund

1981 war die Jugendbuchwoche in Braunschweig auf Initiative der Braunschweiger Buchhandlung „bücherwurm“ (Kinder- und Jugendbuchladen GmbH) ins Leben gerufen worden. Seither unterstützen der Braunschweiger Buchhandel, mittelständische Unternehmen und auf dem Gebiet des alten Landes Braunschweig tätige Stiftungen die Veranstaltungsreihe. 1985 gründeten der hiesige Buchhandel und die Öffentliche Bücherei den Verein Braunschweiger Jugendbuchwoche e.V.

Gefördert wird die 35. Braunschweiger Jugendbuchwoche unter anderem von der Stadt Braunschweig, der Braunschweigischen Stiftung und der Bürgerstiftung Braunschweig.

Ausstellung

„Bilderwelten“ – Susanne Göhlich zeigt in einer begleitenden Ausstellung Illustrationen aus eigenen Bilderbüchern und Arbeiten zu Kinderbüchern (16. November 2015 bis 16. Januar 2016)
Ort: Stadtbibliothek, Kinderbibliothek im 3. OG, Schlossplatz 2

Mehr Informationen im Internet unter: www.braunschweiger-jugendbuchwoche.de

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