Braun­schweigs starke Frauen

Der Löwe kehrt zurück und Gertrud Parrisius-Bingel fing den Moment mit ihrer Kamera ein. Foto: Gertrud Parrisius-Bingel
Der Löwe kehrt zurück und Gertrud Parrisius-Bingel fing den Moment mit ihrer Kamera ein. Foto: Gertrud Parrisius-Bingel

Reinhard Bein und weitere Autoren haben für das neue Werk des Arbeits­kreises Andere Geschichte 34 weibliche Persön­lich­keiten aus dem 18. und 20. Jahrhun­dert porträ­tiert.

Das von der Arbeits­gruppe Andere Geschichte vorge­legte Buch „Braun­schweiger Frauen in ihrer Zeit“ taugt absolut zur Nacht­tisch­lek­türe. Es bietet jeden Abend die spannende Lebens­ge­schichte einer beein­dru­ckenden Frau, die in Zusam­men­hang mit Braun­schweig steht. Selbst für an hiesiger Geschichte Inter­es­sierte ist die Mehrzahl der beschrie­benen Frauen eher unbekannt. Der bewährten Autoren­gruppe um Reinhard Bein ist es erneut gelungen, kompakt, inter­es­sant und populär zu schreiben, eben nicht zu wissen­schaft­lich. Das Buch ist keine schwere Kost, sondern lässt sich flott  lesen. Man mag es kaum aus der Hand legen.

„Wir wollten keine Sozial­ge­schichte der Emanzi­pa­tion im Braun­schweiger Land vorlegen, sondern an einzelnen inter­es­santen, typischen bezie­hungs­weise untypi­schen Biografien das Leben von Frauen in ihrer Zeit darstellen. Einige der Frauen, die wir vorstellen, sind berühmt, andere gänzlich unbekannt. Fast alle aber führten durch besondere Umstände ein ungewöhn­li­ches Leben innerhalb der engen Grenzen, die ihnen die frauen­feind­li­chen Gesetze der vergan­genen Jahrhun­derte aufzwangen“, erläutert Heraus­geber Reinhard Bein.

So finden sich Porträts von der bis heute wohl fast jedermann noch bekannten Harfen Agnes bis hin zur There­si­en­stadt-Überle­benden Marga­rethe Führmann, von der Preußen-Königin Elisabeth Christine bis hin zur Sekre­tärin Nora Kuntzsch, einer  frühen Vertrauten von Otto Grotewohl, dem späteren ersten Minis­ter­prä­si­denten der DDR, von Esma Warmbold, die dem Straf­lager Stalins entkam, bis hin zu Dina Lauriente, die als Gastar­bei­terin einen Imbiss führte.

Auf den 321 Seiten sind 34 Frauen­schick­sale (Liste s.u.) beschrieben. Das Buch ist im  döring­DRUCK, Braun­schweig, erschienen. Es kostet 15,95 Euro und ist im Buchhandel erhält­lich. Die Geschichten sind wie in den vorhe­rigen Veröf­fent­li­chungen gründlich recher­chiert und mit Quellen- und Litera­tur­an­gaben versehen. Gelungen sind die Ergän­zungen – dort, wo es möglich war – mit touris­ti­schen Hinweisen am Ende der Kapitel, so dass sogar im Nachgang zur Lektüre kleine Entde­ckungs­reisen möglich sind. Alle Biogra­fien sind mindes­tens mit einem Porträt­foto oder einer Zeichnung illus­triert.

Die porträ­tierten Frauen, so Bein, hätten durch besondere Umstände ein ungewöhn­li­ches Leben innerhalb der engen Grenzen, die ihnen die frauen­feind­li­chen Gesetze der vergan­genen Jahrhun­derte aufzwangen, geführt. Manche von ihnen hätten sich bewusst den herrschenden Regeln entgegen gestellt, andere seien eher zufällig Positionen geraten, die in ihrer Zeit der klassi­schen Frauen­rolle wider­spro­chen hätten.

Ein Beispiel dafür ist Greta Wehner, die Stief­tochter und spätere Ehefrau des langjäh­rigen Vorsit­zenden der SPD-Fraktion Herbert Wehner. Sie wurde 1924 in Harxbüttel geboren. Im Text heißt es: „Dem aufstre­benden Abgeord­neten wachsen immer mehr Aufgaben und Ämter zu, wobei Greta zur wichtigsten, bald unent­behr­li­chen Mitar­bei­terin aufrückt. Ihr Einsatz kann nicht hoch genug einge­schätzt werden, ohne ihn wäre die Karriere des späteren Frakti­ons­vor­sit­zenden und Ministers womöglich anders verlaufen. Greta Burmester begleitet Herbert Wehner, wann immer möglich, auf seinen Reisen; für ihn lernt sie eigens das Autofahren, verwaltet seinen Termin­ka­lender und avanciert zur Bürolei­terin…“

Helene Engel­brecht zählt dagegen zu den unbekannten Frauen. Sie gründete 1898 den Frauen-Hilfs­verein „Elisabeth“, aus dem schließ­lich ein Heim für vernach­läs­sigte, verwaiste und misshan­delte Kinder im Bültenweg hervor­ging. Im Buch steht: „Oberster Grundsatz der Stadt: Arme durften nicht viel kosten. Das Ergebnis war, wie nicht anders zu erwarten: schreck­lich. Auf allen Feldern sozialer Not bedurfte es privater Initia­toren, die sich immer neue Hilfs­felder erschlossen. Der Staat bedrohte auffällig gewordene Kinder mit Zwangs­ein­wei­sung in Erzie­hungs­an­stalten mit rigider Ausrich­tung auf Gehorsam, Zucht und Ordnung, im Herzogtum Braun­schweig ab 1870 im Schloss Bevern. Von 1900 an konnten Kinder und Jugend­liche sogar ohne Vorliegen einer Straftat in eine Erzie­hungs­an­stalt einge­wiesen werden, wenn die Behörden „Verwahr­lo­sung“ feststellten. Der Weg von dort ins Zuchthaus war kurz.“ Dank der Unter­stüt­zung durch die Max-Jüdel-Stiftung entwi­ckelte Helene Engel­brecht unter anderem auch eine Auskunfts‑, Arbeits­ver­mitt­lungs- und Rechts­schutz­stelle für Frauen.

Im Vorwort wird die Lebens­si­tua­tion von Frauen im 19. und 20. Jahrhun­dert beschrieben. Durch diese Rückschau werden die Biogra­fien so stark. „Bis 1919 unter­standen Frauen rechtlich einem Vormund, dem Vater, dem Ehemann. Durch die Änderung der gesell­schaft­li­chen Verhält­nisse im 19. Jahrhun­dert kämpften viele Frauen gegen die bestehenden Verhält­nisse“, heißt es. Und weiter: „Frauen entspre­chend ihrer Herkunft und Bildung ganz unter­schied­liche Ziele: Arbei­te­rinnen und Dienst­mäd­chen litten soziale Not. Berufs­mög­lich­keiten für unver­hei­ra­tete Frauen des Mittel­stands existierten kaum. Gemäßigte Frauen­füh­re­rinnen forderten die Reform der Mädchen­schule und der Lehre­rin­nen­aus­bil­dung und strebten verbes­serte Bedin­gungen für das Studium von Frauen an den Hochschulen an. Radikale Gruppie­rungen setzten sich für die Gleich­stel­lung lediger Mütter und nicht­ehe­li­cher Kinder ein und proble­ma­ti­sierten Themen­be­reiche wie die herrschende sexuelle Doppel­moral oder die Prosti­tu­tion. Um 1910 kulmi­nierten diese Zielset­zungen in der Forderung nach Frauen­wahl­recht und Gleich­stel­lung, heiß es weiter. Die vorüber­ge­hende Befreiung aus der Bevor­mun­dung während der Weimarer Republik wurde mit Beginn der NS-Zeit zum Teil zurück­ge­nommen, nicht durch Gesetz, sondern durch Verord­nungen. Auch nach 1945 blieb die Ungleich­be­hand­lung zunächst bestehen, und zum Teil besteht sie bis heute fort.“

Seit 1985 leistet der „Arbeits­kreis Andere Geschichte“ einen Beitrag zur Erfor­schung der Regio­nal­ge­schichte. In ihm finden sich Geschichts­in­ter­es­sierte zusammen, die sich mit Braun­schweigs Geschichte im 19. und 20. Jahrhun­dert ausein­an­der­setzen. Der soziale Wandel der Stadt seit der Indus­tria­li­sie­rung, die Zeit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Diktatur, die Geschichte Braun­schweiger Frauen, die Entwick­lung der einzelnen Stadt­quar­tiere sind Schwer­punkt­themen. Der Arbeits­kreis betreut im Auftrag der Stadt auch die Gedenk­stätte KZ-Außen­lager Schill­straße.

Porträts im Buch (geordnet nach Geburts­jahren): Rosina de Gasc (*1713, Portrait­ma­lerin), Elisabeth Christine (*1715, Königin von Preußen), Anna Charlotte Grimm (*1722, Osman. Sklavin, Pasto­ren­frau), Eva Lessing (*1736, Ehefrau des Dichters), Friede­rike Riedesel (*1746, Generals­frau, Schrift­stel­lerin), Caroline von Braun­schweig (*1768, Königin von England), Charlotte von Glümer (*1799, Schrift­stel­lerin, Emigrantin), Luise Löbbecke (*1808, Sozial­re­for­merin, Ehren­bür­gerin), Julie Dedekind (*1825, Lehrerin , Schrift­stel­lerin), Rosalie Spohr (*1829 , Harfi­nistin), Anna Vorwerk (*1839, Pädagogin, Schul­lei­terin), Helene Engel­brecht (*1849, Gründerin von Sozial­ein­rich­tungen), Maria Kimpel (*1863, Domänen­päch­terin, Schul­ei­gen­tü­merin), Agnes Schos­noski (*1866, Straßen­mu­si­kantin), Else Sonnen­berg (*1879, Kaufmanns­frau), Tilla von Praun (*1877, MdL, Sozial­re­for­merin), Katharina Kolter (*1882, Kranken­schwester, Jugend­pfle­gerin), Dora Herxheimer (*1884, Plasti­kerin, Malerin), Ilse Rüder (*1887, Apothe­kerin, Nahrungs­mit­tel­che­mi­kerin), Maria von Strach­witz (*1889, Bankiers­tochter, Baronin, Gräfin), Annemarie Seidel (*1894, Schau­spie­lerin), Käte Ralfs (*1898, Förderin moderner Kunst), Marga­rethe Führmann (*1903, There­si­en­stadt-Überle­bende), Franziska Bennemann (*1905, Gewerk­schaft­lerin, MdB), Gretel Ebeling (*1910, Angestellte, politi­sche Emigrantin), Nora Kuntzsch (*1912, Sekre­tärin), Gertrud Parrisius-Bingel (*1918, Fotografin, Lehrerin), Elisabeth Müller-Luckmann (*1920, Psycho­login, Gutach­terin), Greta Wehner (*1924, Sozial­pfle­gerin, Mitar­bei­terin Wehners), Esma Warmbold (*1926, Krimta­tarin, Hausfrau), Rose-Marie Ausmeier (*1928, Schau­spie­lerin, Ratsmit­glied), Dina Lauriente (*1941, Gastar­bei­terin, Kauffrau), Birgit Pollmann (*1947, Dezer­nentin, Regie­rungs­prä­si­dentin), Barbara Kramer (*1949, Rechts­an­wältin).

Die Autoren­gruppe: Reinhard Bein, Regina Blume, Heinz Günther Halbeisen, Gudrun Hirsch­mann, Gilbert Holzgang, Hannelore Künne,  Almuth Rohloff, Isabel Rohloff, Jannik Sachweh, Ulrike Schuh-Fricke, Manfred Urnau.

Bereits porträ­tiert wurden in den drei Bänden der Reihe „Braun­schweiger Persön­lich­keiten des 20. Jahrhun­derts“: Käthe Buchler (Fotografin/Band 3), Anna Dräger-Mühlen­pfordt (Malerin, Graphikerin/3), Martha Fuchs (Oberbür­ger­meis­terin von Braunschweig/1), Claire von Glümer (Journa­listin, Schrift­stel­lerin, Übersetzerin/2), Gerda Gmelin (Theater­lei­terin, Schauspielerin/2), Elisabeth Gnauck-Kühne (Pädagogin, Sozialpolitikerin/2), Hedwig Götze-Sievers (Sozialreformerin/3), Friede­rike von Hannover (Königin von Griechenland/2), Christine Hebbel (Schau­spie­lerin, Nachlassverwalterin/2), Ricarda Huch (Schriftstellerin/1), Katharina von Kardorff-Oheimb (MdR, Unternehmerin/3), Anna Klie (Schriftstellerin/3), Grete Krämer-Tschäbitz (Bildhauerin, Keramikerin/3), Agnes Pockels (Physikerin/1), Victoria Luise von Preußen (Herzogin von Braunschweig/1), Margret Rettich (Kinder­buch­au­torin, lllustratorin/3), Frieda Rutgers van der Loeff-Mielziner (Malerin/2), Emmy Scheyer (Malerin, Galeristin/1), Henriette Schrader-Breymann (Pädagogin/3), lna Seidel (Schriftstellerin/1), Edda Seippel (Schauspielerin/2), Lette Valeska (Fotografin von Hollywoodstars/2).

Kontakt:

Arbeits­kreis Andere Geschichte
Schloß­straße 8
38100 Braun­schweig

Telefon: 0531 / 18957
E‑Mail: andere_geschichte_braunschweig@t‑online.de
Homepage: www.andere-geschichte.de

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