Das Armen­kran­ken­haus an der Wenden­straße

So sah das Armenkrankenhaus im 18. Jahrhundert aus. Archiv: IBR
So sah das Armenkrankenhaus im 18. Jahrhundert aus. Archiv: IBR

Geschichte(n) aus dem Braun­schwei­gi­schen, Folge 9: Der Neubau zog sich über 16 Jahre hin und wurde mit Spenden angese­hener Bürge­rinnen und Bürger finan­ziert.

Die Geschichte der Kliniken in Braun­schweig ist ein inter­es­santes Kapitel der Stadt- und Kultur­ge­schichte. Eine zukunfts­ori­en­tierte Entwick­lung nahm das Sozial- und Gesund­heits­wesen in Braun­schweig im 18. Jahrhun­dert, im Zeitalter der Aufklä­rung. Armen­für­sorge und Kranken­be­treuung wurden zunehmend auf freiwil­liger Basis zur bürger­li­chen und kommu­nalen Aufgabe sowie die medizi­ni­schen Berufe in Folge des wissen­schaft­li­chen Fortschritts der Zeit neu geordnet und profes­sio­na­li­siert. 1759 wurde eine erste Geburts­klinik einge­richtet. 1780 stand schließ­lich das erste Armen­kran­ken­haus an der Wenden­straße zur Verfügung.

Zur Organi­sa­tion und Überwa­chung des Medizinal- und Apothe­ken­we­sens wurden von Herzog Carl I. (1713–1780) das Collegium Medicum (1747 – 1772) und ab 1772 das Obersa­ni­täts­kol­le­gium einge­richtet. Verbes­se­rung der Arztaus­bil­dung war ebenso eine Aufgabe für die akade­mi­schen Lehrer wie die Ausbil­dung von Hebammen und der in der Geburts­hilfe tätigen Chirurgen. Vor diesem Hinter­grund sollten zugleich die Kranken­ein­rich­tungen verbes­sert werden, vor allem für die sozial Schwachen, denn dem Armen­wesen galt die besondere Aufmerk­sam­keit der Sozial­po­litik in Stadt und Land.

Zur Rettung unschul­diger Kinder

Bereits 1759 infor­mierte Herzog Carl I. den städti­schen Magistrat von einem Plan, in der Residenz­stadt ein Hospital zu errichten, in dem „zur Rettung der unschul­digen Kinder schwan­gere Weibsleut, die sich sonst nicht helfen können, aufge­nommen und accouchiert werden sollen“. Dies war die Geburts­stunde des ersten staat­li­chen „Accouchier­hauses“ in Braun­schweig, einer amtlich gelei­teten Geburts­klinik. Da durch den Sieben­jäh­rigen Krieg (1756/1763) die Staats­fi­nanzen äußerst desolat waren, standen zunächst keine Gelder für eine eigene Geburts­klinik zur Verfügung.

Aller­dings begann man 1764 in Braun­schweig mit dem Neubau eines Armen­kran­ken­hauses am Wendentor. Es sollte ein Bürger­spital werden, errichtet mit Spenden angese­hener Bürge­rinnen und Bürger. Herzogin Philip­pine Charlotte spendete zunächst den beacht­li­chen Betrag von 20 000 Talern, dennoch reichte der Stiftungs­fonds lange Zeit nicht aus, um zügig zu bauen, so dass das Armen­kran­ken­haus an der Ecke Wilhelm- und Wenden­straße erst 1780 fertig­ge­stellt werden konnte. Architekt war Ernst Wilhelm Horn (1732/33 – 1812), der auch das herzog­liche Kammer­ge­bäude an der Marti­ni­kirche erbaut hatte. Das Armen­kran­ken­haus wurde sein Hauptwerk.

Sehr einfach und sparsam

Bereits 1767 hatte man im schon fertig­ge­stellten Teil des Gebäudes an der Wenden­straße drei Zimmer als Entbin­dungs­sta­tion für ledige Mütter einge­richtet, eines davon als „Kreißsaal“. Es sollte dies nicht nur eine dringend notwen­dige soziale Einrich­tung sein, sondern im Zuge einer staat­li­chen Sozial­re­form sollte auch die prakti­sche Ausbil­dung der geburts­hilf­lich arbei­tenden Ärzte sowie der Hebammen profes­sio­na­li­siert werden. Alles war jedoch noch sehr einfach und sparsam gestaltet. Doch nicht nur an der Einrich­tung wurde gespart, selbst die Hebammen mussten ihre eigenen Instru­mente sowie Gebär­stühle mitbringen, da die notwenige Finan­zie­rung fehlte. Zeitweise arbei­teten gleich­zeitig acht Hebammen und ebenso viele Chirurgen hier.

Lehrstuhl für Chirurgie

Als erster Leiter der Einrich­tung wurde der renom­mierte Göttingen Chirurg Johann Christoph Sommer (1740 – 1802) gewonnen, der gleich­zeitig den neu geschaf­fenen Lehrstuhl für Chirurgie übernahm und später Leiter des Herzog­li­chen Kranken­hauses wurde. Zu Sommers Freun­des­kreis zählte auch Lessing, dem er vor seinem Tod am 15. Februar 1781 als Hausarzt behilf­lich war. Aufge­nommen wurden im „Accouchier­haus“ ausschließ­lich ledige Mütter, die aller­dings trotz aller Not einem solchen Angebot skeptisch gegen­über­standen, weshalb man Vergüns­ti­gungen wie freie Kost und Unter­kunft ebenso anbot, wie kosten­lose ärztliche Versor­gung. Selbst das Taufgeld übernahm der Staat und zahlte sogar eine Prämie von acht Gutegro­schen für die Bereit­schaft, die Entbin­dung im Armen­kran­ken­haus vornehmen zu lassen.

Anekdote von Gauß

Die bekann­teste Anekdote zum Armen­kran­ken­haus überlie­ferte Carl Friedrich Gauß, der sich erinnerte, dass er als Dreijäh­riger fast im nahege­le­genen Wenden­graben, einem offenen Kanal vor dem Eltern­haus, ertrunken wäre. Als er heimlich und unbeauf­sich­tigt dort spielte, fiel er ins Wasser. Der Nachbar, Schuh­ma­cher Buchholz, hatte das drama­ti­sche Unglück beobachtet, den Jungen, der bereits die Besinnung verloren hatte, gerettet und gemeinsam mit der Mutter eilig in das nahege­le­gene Armen­kran­ken­haus gebracht hatte, wo er von den Ärzten wieder­be­lebt werden konnte. Das Armen­kran­ken­haus wird heute von Verwal­tungs­ge­richt und Sozial­ge­richt genutzt. Ein histo­risch bedeut­sames Gebäude und ein wichtiger Geschichtsort in unserer Stadt.

Autor Gerd Biegel ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte an der TU Braun­schweig.

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