Im Zeichen des Rochen

Blick über das Trümmerfeld von Meinhardshof und Alte Waage auf St. Andreas, 1945. Foto Archiv Elmar Arnhold

Verschwun­dene Kostbar­keiten, Folge 32 und Abschluss: der Untergang des alten Braun­schweigs am 15. Oktober 1944.

Zum 80. Gedenktag der Zerstö­rung Braun­schweigs im Zweiten Weltkrieg schließt dieser Beitrag die Löwe-Reihe „Verschwun­dene Kostbar­keiten“ ab: Eine kurze Betrach­tung über den Bomben­krieg gegen unsere Stadt. Sie kann das ungeheure Geschehen vor acht Jahrzehnten nur skizzieren. Es war der wohl größte Einschnitt in der Geschichte der Löwen­stadt. Neben unermess­li­chem Leid ging unersetz­li­ches Kulturgut für immer zugrunde.

Alte Waage und St. Andreas, Ansicht von Süden, 1893. Foto: aus Braun­schweigs Baudenk­mäler, 1893

Von Februar 1942 an folgte die britische Luftwaffe mit der „Area Bombing Directive“ einer neuen Strategie im Bomben­krieg gegen das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Deutsche Reich: Mit Flieger­an­griffen auf deutsche Städte sollte durch möglichst große Verwüs­tungen insbe­son­dere in den Wohnquar­tieren der Arbei­ter­schaft die Moral der Bevöl­ke­rung gebrochen werden. Umgehend wurde eine ausführ­liche Liste der zur Zerstö­rung vorge­se­henen deutschen Großstädte aufge­stellt. Sie erhielten Tarnbe­zeich­nungen nach Fisch­arten – Braun­schweig wurde mit dem Codenamen „skate“ (Rochen) bedacht. Tatsäch­lich erinnert der Umriss des Stadt­kerns mit seinen Umflut­gräben an die Gestalt eines Rochens.

Das unter­schieds­lose Flächen­bom­bar­de­ment der Royal Air Force war eine Antwort auf den 1939 von Deutsch­land entfes­selten Zweiten Weltkrieg. Seine Luftwaffe hatte zuvor bereits Warschau, Rotterdam, London, Coventry und weitere Orte in Europa schweren Bombar­de­ments unter­zogen. Die Rezeption des Bomben­kriegs gegen Städte reicht jedoch bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zurück. In Reaktion auf das ungeheure Gemetzel der Materi­al­schlachten von 1914 bis 1918 entwarfen Militär­theo­re­tiker einen massiven Luftkrieg auch gegen die Zivil­be­völ­ke­rung. Eine solche Strategie könne – je rigoroser prakti­ziert, desto eher – eine schnelle Kriegs­ent­schei­dung herbei­führen. Man ging davon aus, die Bevöl­ke­rung des Kriegs­geg­ners mit Bomben zu Aufruhr, Streik und Revolu­tion treiben zu können. Diese Gedanken blieben der Öffent­lich­keit nicht verborgen. Schon in den 1920er und 30er Jahren entstanden düstere Zukunfts­vi­sionen, die schließ­lich von der Wirklich­keit weit übertroffen wurden, ohne dass die Menschen rebel­lierten … Ein Vorge­schmack war die Bombar­die­rung von Guernica im Spani­schen Bürger­krieg durch die deutsche „Legion Condor“ (1937), obwohl die Theorie des „moral bombing“ vorwie­gend in Großbri­tan­nien favori­siert und schließ­lich auch reali­siert wurde.

Bevor­zugtes Ziel

In der Zeit des Dritten Reiches wurde Braun­schweig – und nach den Gründungen des Volks­wa­gen­werks und der Stahl­werke in Salzgitter – auch die umlie­gende Region zu einem Zentrum der Schwer- und Rüstungs­in­dus­trie ausgebaut. Damit avancierte die Stadt zu einem bevor­zugten Zielort des alliierten Luftkrieges. Ab 1943 galt die Doppel­stra­tegie briti­scher Nacht­an­griffe auf Stadt­zen­tren und Wohnquar­tiere sowie Attacken der US-Luftwaffe gegen Indus­trie­ziele und Infra­struktur am Tage. Dabei konnte der Radius konti­nu­ier­lich ausge­weitet werden: Nach der Angriffs­serie gegen das Ruhrge­biet im Frühjahr/Sommer 1943 und den furcht­baren Bombar­die­rungen Hamburgs im Juli gerieten ab Herbst auch Berlin und Mittel­deutsch­land in das Visier der westli­chen Luftflotten. Damit waren auch die Würfel für das Schicksal Braun­schweigs endgültig gefallen.

Erstaun­li­cher­weise blieb es vorerst ruhig in der Löwen­stadt. Erst Ende September 1943 kam es zu einem kleineren Nacht­an­griff, der seine Opfer vor allem in Riddags­hausen fand. Es handelte sich um ein Ablen­kungs­ma­növer während eines Großan­griffs auf Hannover. Am 10. Februar 1944 wurde erstmals die Innen­stadt mit Spreng­bomben getroffen – die ameri­ka­ni­sche Operation zielte eigent­lich auf die in Braun­schweig ansässige Luftfahrt­in­dus­trie: mehr als 100 Todes­opfer, ein Volltreffer zerfetzte die Alte Waage. Am 23. April traf eine Luftmine die Magni­kirche. Weitere Bomben fielen am 19. Mai und am 13. August. Es folgten noch einmal zwei Monate Ruhe vor dem Feuer­sturm.

233 Bomber über der Stadt

Am Abend des 14. Oktober starteten in England 233 viermo­to­rige Bomber nach Braun­schweig. Das Prinzip der nächt­li­chen Brand­an­griffe war inzwi­schen ausge­klü­gelt und zeitigte eine serielle Zerstö­rung großflä­chiger Stadt­quar­tiere. In einem „Bomben-Baedeker“ hatte das britische Bomber­kom­mando eine Physio­gnomie der deutschen Stadt­kerne aufge­stellt – im Vorder­grund stand ihre „Brenn­bar­keit“. Braun­schweig befand sich mit seiner noch weitge­hend von Fachwerk geprägten Innen­stadt auf verlo­renem Posten. Die Stadt­zen­tren wurden von den „Pfadfinder“-Flugzeugen ausge­leuchtet und markiert, Zeitzeugen erinnern sich an die berüch­tigten „Christ­bäume“. Es folgten schwere Luftminen, deren Explo­sionen Dächer und Fenster zertrüm­merten. Dann prasselten oft mehrere hundert­tau­send Stabbrand­bomben nieder. Genau diese Choreo­grafie musste auch Braun­schweig erdulden, nachdem die Spitzen des Bomber­stroms am 15. Oktober 1944 gegen 01:50 Uhr die Stadt erreicht hatten. Das Verfahren des Vernich­tungs­werks wurde noch verfei­nert durch die Taktik, die Flieger­staf­feln fächer­förmig über den Stadtkern zu lenken und jeder Maschine genaue Abwurf­ko­or­di­naten zuzuweisen. In 40 Minuten konnten mehr als 180.000 Brand­bomben abgeladen werden. Gegenwehr erfolgte ausschließ­lich durch Flak-Geschütze, zumal in derselben Nacht Duisburg von 1005 (!) Kampf­flug­zeugen heimge­sucht wurde.

Klick aufs Bild für größere Ansicht: Schadens­plan der Innen­stadt, 1945. Foto: Elmar Arnhold/Umzeichnung nach städti­schen Planun­ter­lagen

 

Die Bilanz der Braun­schweiger Bomben­nacht war verhee­rend. An die 90 Prozent des Stadt­kerns lagen in Trümmern. Auch die Stadt­er­wei­te­rungs­ge­biete der Gründer­zeit waren schwer getroffen. 80.000 Ausge­bombte. Die häufig genannte Zahl von 561 Todes­op­fern aus der polizei­li­chen Statistik lag vermut­lich doppelt so hoch. Durch den hochef­fi­zi­enten Einsatz der Braun­schweiger Feuerwehr konnten jedoch mehr als 20.000 Menschen aus den inner­städ­ti­schen Bunkern und Schutz­räumen befreit werden – sie wären dort mögli­cher­weise an Sauer­stoff­mangel umgekommen. Ein kleines Wunder während des Wahnsinns, denn ein Feuer­sturm verzehrt die Atemluft. Das beweisen die grauen­haften Opfer­zahlen von Hamburg (bis zu 40.000 Tote), Kassel und Darmstadt (jeweils um 10.000), Pforzheim (17.000) und nicht zuletzt Dresden (geschätzt 25.000).

Orgie der Zerstö­rung

Zur Braun­schweiger Bilanz gehört auch die Vernich­tung eines der größten Stadt­denk­mäler nicht nur im deutsch­spra­chigen Raum. Unsere Stadt besaß eine unermess­liche Fülle baulicher Preziosen und bot bis 1944 eines der wohl größten Ensembles histo­ri­scher Holzbau­kunst – weltweit. Erstaun­lich, was trotzdem erhalten ist und der Löwen­stadt bis heute indivi­du­elles Flair und Identität verleiht. Denn mit dem 15. Oktober 1944 war auch in Braun­schweig die Orgie der Zerstö­rung nicht beendet. Noch am 31. März 1945 traf es den bis dahin verschonten Aegidi­en­markt. Im selben Monat zerbarst das barocke Gesamt­kunst­werk Würzburg, es verglühten das alte Paderborn, die einstige Anhal­ti­sche Residenz Dessau, die Fachwerk- und Renais­sance­stadt Hanau sowie – das benach­barte Hildes­heim. Ausge­löschtes Weltkul­tur­erbe. Die Orgie der Vernich­tung lief wie ein Uhrwerk.

Meinhardshof und St. Andreas heute. Foto: Elmar Arnhold

Deutsch­land hatte unter dem Hitler-Regime einen Sturm unermess­li­cher Bruta­lität gesät und einen Feuer­orkan geerntet. Es darf nie vergessen werden: Als die Städte brannten, rauchten auch die Öfen der Krema­to­rien in Auschwitz, Treblinka, Majdanek … Die Folgen des unsäg­li­chen Gesche­hens sind landauf landab zu besich­tigen: 161 Mittel- und Großstädte unseres Landes wurden dem Bombar­de­ment unter­zogen und verloren ihre oft in Jahrhun­derten gewach­sene, unver­wech­sel­bare Identität. Die ästhe­ti­sche Verarmung für die seit 1945 lebenden Genera­tionen hatte schon Hermann Hesse beim Namen genannt.

 

Elmar Arnhold ist Bauhis­to­riker (Gebautes Erbe) und Stadt­teil­hei­mat­pfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröf­fent­licht er regel­mäßig Beiträge zu histo­ri­schen Bauten in Braun­schweig.

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