Hunger nach Kultur

Der Braunschweiger Burglöwe kehrt im März 1946 zurück an seinen angestammten Platz. Foto: IBR
Der Braunschweiger Burglöwe kehrt im März 1946 zurück an seinen angestammten Platz. Foto: IBR

75 Jahre Kriegs­ende, Folge 5: Durch Plünde­rung und Zerstö­rung waren bei den ausge­la­gerten Braun­schwei­gi­schen Sammlungs­be­ständen unersetz­liche Verluste einge­treten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand mitten in den Trümmern der Wunsch nach Theater, Kunst und Literatur mit an der ersten Stelle der Zukunfts­er­war­tungen. Eine der ersten Aufgaben war auch die Rückho­lung von Kunst­werken, die zum Schutz einge­la­gert worden waren, allen voran der Braun­schweiger Burglöwe. Als dieser im März 1946 wieder an seinem angestammten Platz aufge­stellt wurde, bewertete Minis­ter­prä­si­dent Hubert Schle­busch das „als ein gutes Zeichen für den Wieder­aufbau der Stadt Braun­schweig…, die aus Schutt und Asche wieder neu erstehen soll“.

Ein erster Höhepunkt war im Juni 1946 im Rahmen der Braun­schweiger Kultur­woche die Ausstel­lung „Gerettete Meister­werke“. Darin wurden die wichtigsten Werke aus Berliner Museen präsen­tiert, die in der Werkstatt im Schloss Richmond restau­riert worden waren und erstmals wieder der Öffent­lich­keit zugäng­lich gemacht wurden. Schwer­punkt der Präsen­ta­tion waren Werke der Roman­tiker wie Caspar David Friedrich, Karl Blechen und anderen, vor denen ununter­bro­chen in großen Mengen die Menschen staunend standen. Immer wieder wurde über die langen Schlangen der Menschen berichtet, die vor der Eingangstür geduldig warteten, um bei freiem Eintritt diese Ausstel­lung besuchen zu können.

Wertvolle Gemälde entdeckt

An die geradezu abenteu­er­li­chen Hinter­gründe, die zur Entste­hung dieser Ausstel­lung in Braun­schweig geführt hatten, erinnerte der Landes­kon­ser­vator Dr. Kurt Seeleke in seiner Eröff­nungs­an­sprache: „Als ich vor fast einem Jahr in das Salzberg­werk Grasleben zum ersten Mal einfuhr, entdeckte ich Gemälde aus einem bekannten deutschen Museum, die unver­packt und infolge der Brand­wir­kung eines unter Tage entstan­denen Feuers schwer angegriffen waren. Ich hatte kaum Hoffnung, dass fachliche Hilfe noch möglich war, um manche dieser Gemälde, die nur noch wie versengte und wie mit Salz überzo­gene Bretter wirkten, zu retten“.

Mit tatkräf­tiger Unter­stüt­zung des um die Bergung von gefähr­deten Kunst­gü­tern sehr verdienten engli­schen Kunst­schutz­of­fi­ziers Major Charles wurden die Bilder nach Braun­schweig überführt und von Restau­rator Herzig wieder in ihre ursprüng­liche Qualität versetzt. Seeleke sprach von einem „der größten Erfolge moderner Restau­rie­rungs­kunst.“ Der enorme Publi­kums­er­folg der Ausstel­lung führte zu einer immer regeren Nutzung von Schloss Richmond, wo nun regel­mäßig Konzerte, Lesungen und weitere Ausstel­lungen, etwa des Kunst­ver­eins, statt­fanden.

Schloss Richmond als Kultur­zen­trum

Dabei entwi­ckelte sich allmäh­lich Schloss Richmond zu einem der inter­es­san­testen Kultur­zen­tren in der Stadt Braun­schweig, aber auch für die gesamte Region. Am 12. Juni 1946 fand hier auf Einladung der briti­schen Militär­ver­wal­tung die erste Tagung des Denkmal- und Museums­rates statt, bei dem Konser­va­toren und Museums­di­rek­toren aus Nordwest­deutsch­land (Britische Zone) tagten, die zuvor stets nur im engli­schen Haupt­quar­tier zusam­men­ge­troffen waren. Bei den Vorträgen der Braun­schweiger Vertreter wurde insbe­son­dere auf die für Braun­schweig besonders glück­liche Zusam­men­ar­beit zwischen Vertre­tern der Denkmal­pflege, der Techni­schen Hochschule, den staat­li­chen sowie städti­schen und kirch­li­chen Bauämtern hinge­wiesen und deutlich gemacht, dass in dieser Koope­ra­tion die lokale Stärke der Kultur begründet lag.

Auch der Braun­schweiger Kunst­verein nahm seine Aktivi­täten und Ausstel­lungen wieder auf. In der zweiten Hälfte des Jahres 1946 präsen­tierte er eine Wilhelm Busch-Ausstel­lung und im November als zweite Ausstel­lung im Haus Salve Hospes Werke des Bildhauers Ludwig Kasper, der als Lehrer an der damaligen Werkkunst­schule (heutige HBK) lehrte. Im Jahr 1946 hatte der Braun­schweiger Oberbür­ger­meister Dr. Ernst Böhme den Vorsitz des neu konsti­tu­ierten Kunst­ver­eins übernommen. Als oberstes Ziel der zukünf­tigen Ausstel­lungs­tä­tig­keit formu­lierte er, „den einst verfemten Künstlern bald wieder eine echte Heimstätte im Herzen unserer Kunst­freunde“ zu geben.

Insti­tu­tio­nelle Kultur­ar­beit

Es war dies ein Anfang insti­tu­tio­neller Kultur­ar­beit, noch bevor die Museen in Braun­schweig die Möglich­keit hatten, mit eigenen Veran­stal­tungen und Ausstel­lungen wieder aktiv zu werden. Bei der Übergabe des Hauses Salve Hospes an die Bürger­schaft unter­strich Böhme die Bedeutung der Kultur für die städti­sche Politik insgesamt und betonte, dass ein kultu­relles Programm entwi­ckelt werden müsse, das „ungeachtet der sozialen Lage des Einzelnen jedem inter­es­sierten Mitbürger zugängig gemacht werden soll“. Damit war an die sozial­po­li­ti­sche Bedeutung und der Anspruch der Kultur unmiss­ver­ständ­lich dahin­ge­hend formu­liert, dass Kultur unabhängig von allen formalen Vorgaben als vordring­liche kommunale und staat­liche Pflicht­auf­gabe definiert war.

Der Oberbür­ger­meister unter­strich die wichtige Rolle etwa des Kunst­ver­eins, forderte eine gerechte Vertei­lung der Eintritts­karten für das Theater zugunsten der werktä­tigen Bevöl­ke­rung, wies auf den Wieder­aufbau der Städti­schen Biblio­theken ebenso hin, wie auf die Bauar­beiten im Städti­schen Museum. Selbst die Staat­li­chen Museen waren damals ein beson­deres Anliegen der Stadt Braun­schweig, denn zukunfts­ori­en­tiert hatte Dr. Ernst Böhme deren Strahl­kraft und Bedeutung für den Kultur­standort Braun­schweig längst erkannt.

Volks­hoch­schule startet

Das Haus Salve Hospes war aber auch 1946 der Ort, an dem die Braun­schweiger Volks­hoch­schule ihren Neubeginn fand. Am 1. April 1946 wurde die Volks­hoch­schule eröffnet, und in der Gründungs­nach­richt hieß es: „Sehr viele unter uns werden das Bedürfnis haben, nach den vergan­genen zwölf Jahren wieder Zugang zu den ewigen Quellen deutscher Bildung zu erhalten. Hinzu kommt die große Schar junger Männer, die mit 16 Jahren in den Krieg zogen und die heute, zuweilen ratlos, in der neuen Welt Anschluss suchen. Ihnen muss die besondere, auch geistige Fürsorge gelten“. Schwer­punkte des Programms waren anfangs Literatur und Geschichte, besonders braun­schwei­gi­sche Geschichte, und die Angebote fanden großen Zuspruch. Mit dieser Vortrags­reihe begann die Volks­hoch­schule in Braun­schweig noch im Jahr 1946 die Ausein­an­der­set­zung mit den drängenden, aber meist verdrängten Fragen der eigenen Geschichte der jüngsten Zeit. Es war dies ein einzig­ar­tiges Projekt in Deutsch­land.

Wie von Oberbür­ger­meister Dr. Ernst Böhme angekün­digt, konnte das Städti­sche Museum tatsäch­lich im Mai 1946 seine Bestände teilweise wieder der Öffent­lich­keit zugäng­lich machen. Die Kriegs­zer­stö­rung am Gebäude und seinen Ausstat­tungen waren erheblich. Das Dach, die Türen, die Fenster und alle Einrich­tungs­ge­gen­stände waren zerstört worden. Der Lichthof, alle Ausstel­lungs­säle, Verwal­tungs­räume, Magazine und Werkstätten waren durch Bomben sowie Wasser­ein­brüche schwer beschä­digt, und die notwen­digen Arbeiten waren aufwendig und sollten noch lange Zeit in Anspruch nehmen. Aber noch vor dem Abschluss dieser Arbeiten konnten einige Sammlungs­ab­tei­lungen „in gegen­warts­naher Aufstel­lung dem Publikum neu vorge­stellt“ werden. So war das Städti­sche Museum das erste der Museen in Braun­schweig, das seinen Betrieb wieder aufnehmen konnte. Es hat dies auf der Grundlage einer vorwärts gerich­teten kultu­rellen Gesamt­kon­zep­tion der Stadt Braun­schweig erfolg­reich getan.

Museum beschlag­nahmt

Das Herzog Anton Ulrich-Museum hatte den Krieg besser überstanden als viele andere vergleich­bare Sammlungen. Das Haus selbst an der Museums­straße war unver­sehrt geblieben, die ausge­la­gerten Sammlungen bei Kriegs­ende noch intakt. Noch bis zum Jahr 1950 aller­dings sollte es dauern, bis die Wieder­ein­rich­tung des Herzog Anton Ulrich-Museums in größerem Umfang beginnen konnte. Der damalige Direktor Dr. August Fink merkte dazu in seiner „Geschichte des Herzog Anton Ulrich-Museums in Braun­schweig“ an: „Als eines der wenigen erhal­tenen großen Gebäude der Stadt war es bis dahin] von der Besat­zungs­macht beschlag­nahmt mit Ausnahme des Erdge­schosses, in dem sich nach und nach die geret­teten Kunst­schätze auf beengtem Raum wieder zusam­men­fanden. Nur Teile von ihnen konnten als Wechsel­aus­stel­lungen in wenigen Sälen, zeitweise auch in dem Schlöss­chen Richmond am Stadt­rande, gezeigt werden«. Im Museum selbst fand eine erste kleine Wieder­eröff­nung ebenfalls schon im Jahr 1946 statt. Am 1. Dezember 1946 konnte die Sonder­aus­stel­lung »Antike Vasen« eröffnet werden.

Ganz anders dagegen stellte sich die Situation für das Braun­schwei­gi­sche Landes­mu­seum für Geschichte und Volkstum dar, dem heutigen Braun­schwei­gi­schen Landes­mu­seum. Im Jahr 1906 Hinter Aegidien im Kloster St. Aegidien und der Aegidi­en­kirche als kultur­his­to­ri­sches Museum einge­richtet, hatte das Braun­schwei­gi­sche Landes­mu­seum für Geschichte und Volkstum am Ende des Zweiten Weltkriegs den größten Teil seiner Ausstel­lungs­räume, seiner Magazine und seiner Arbeits­räume verloren. Das Bortfelder Bauern­haus im Museumshof wurde vollständig zerstört, Dormi­t­orium und Pauliner Kloster waren durch Bomben schwer beschä­digt. Nach Kriegs­ende wurde die Aegidi­en­kirche außerdem der katho­li­schen Kirchen­ge­meinde in Braun­schweig als Ersatz für die zerstörte Nicolai-Kirche zur Verfügung gestellt, womit nicht nur der größte und bedeu­tendste Ausstel­lungs­raum endgültig verloren gegangen war, auch große Teile der anderen Räumlich­keiten konnten vorerst nicht genutzt werden.

Hannover bevorzugt

Durch Plünde­rung und Zerstö­rung waren bei den ausge­la­gerten Sammlungs­be­ständen unersetz­liche Verluste einge­treten. Es sollte schließ­lich noch bis 1960 dauern, ehe die ersten renovierten Schau­räume wieder zugäng­lich waren. Bis dahin blieben die Museums­ak­ti­vi­täten auf Magazin­ar­beiten und kleinere Sonder­aus­stel­lungen beschränkt. Inter­es­sant ist in diesem Zusam­men­hang die Feststel­lung des damaligen Museums­di­rek­tors, Dr. Alfred Tode, der letzten Endes nur noch resigniert darauf hinweisen konnte, dass dem Hanno­ver­schen Landes­mu­seum sehr bald schon mehrere 100.000 Mark zum Wieder­aufbau zur Verfügung gestellt worden waren, während das Braun­schwei­gi­sche Landes­mu­seum für Geschichte und Volkstum mit einem Wieder­auf­bau­be­trag von jährlich 1.500 Mark abgespeist wurde.

Wer den durchaus schwie­rigen Weg zum Neuanfang bei den Museums­ein­rich­tungen nachvoll­zieht, wird unschwer verstehen können, welch enorme Bedeutung private kultu­relle Initia­tiven auf der einen Seite und die Schub­kraft des Staats­thea­ters auf der anderen Seite für die kultu­relle Entwick­lung und zukünf­tige Kultur­po­litik des Landes Braun­schweig auf dem Weg zu einer stabilen Demokratie im Jahre 1946 tatsäch­lich darstellten. Letzten Endes schufen alle gemeinsam jenes Fundament, auf dem die Kultur im Dienste der Menschen kritisch und frei, demokra­tisch und selbst­be­stimmt wirken konnte.

Abschlie­ßend sei noch ein Blick auf die Situation der Litera­tur­ver­mitt­lung im Jahr 1946 geworfen. Neben den bereits erwähnten vielfäl­tigen Lesungen an verschie­denen Orten ist in diesem Zusam­men­hang vor allen Dingen ein Zyklus von Lesungen und Vorträgen zum Thema „Dichter unserer Zeit“ in der Kant-Hochschule hervor­zu­heben. Bereits im Januar 1946 begann diese öffent­liche Ausein­an­der­set­zung mit der Literatur, und es dürfte gewiss kein Zufall gewesen sein, dass man sich am 25. Januar 1946 als erste litera­ri­sche Person Ricarda Huch zum Thema gewählt hatte. In seinem Vortrag skizzierte damals Werner Oehlmann das Leben der aus Braun­schweig stammenden Schrift­stel­lerin, die zu diesem Zeitpunkt noch in Jena lebte. Als erste Frau war sie in die Sektion für Dicht­kunst der Preußi­schen Akademie der Künste in Berlin gewählt worden, und entschieden hatte sie mit ihrem Austritt am 9. April 1933 ein Zeichen gegen die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Juden­hetze und Bruta­lität des Regimes gesetzt, auch wenn ihr Austritt von den Natio­nal­so­zia­listen lange Zeit vertuscht worden war. Oberbür­ger­meister Dr. Ernst Böhme hatte in seinem Vortrag am 17. Februar 1946 entschieden darauf hinge­wiesen, dass aus Braun­schweig wieder ein litera­ri­sches Zentrum gemacht werden solle, wie es dies zu früheren Zeiten gewesen war.

Signal der Hoffnung

Die Betrach­tung des Kultur­le­bens im Jahr 1946 mag deutlich gemacht haben, in welcher geradezu explo­si­ons­ar­tigen Fülle sich das Kultur­leben in der Stadt Braun­schweig, aber auch im Land Braun­schweig, entwi­ckelt hatte. Es war ein „Hunger nach Kultur“, der nicht nur als Nachhol­be­darf unter­drückter geistiger Entfal­tung zu verstehen war, sondern er galt auch als Signal der Hoffnung. Im Jahr 1946 hatte man in Braun­schweig erkannt, dass Kultur als Stand­ort­faktor große Bedeutung hat und als Beitrag zur Lebens­qua­lität unabdingbar notwendig ist. Kulturell-geistige Verarmung hatte erst die Voraus­set­zung geschaffen, für die Schre­ckens­zeit des Natio­nal­so­zia­lismus. Wer Kultur fördert, fördert die Freiheit. Wer Freiheit fördert, der schafft für die Menschen ein sicheres Fundament einer demokra­ti­schen Zukunft.

Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte und Geschichts­ver­mitt­lung an der TU Braun­schweig.

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