So sieht das Leben auf der Straße aus

So sieht die Gruppe der Punker auf die Stadt. Foto: Diakonischen Gesellschaft
So sieht die Gruppe der Punker auf die Stadt. Foto: Diakonischen Gesellschaft

Fotopro­jekt „wohnungslos – Leben in Braun­schweig“ der Diako­ni­schen Gesell­schaft Wohnen und Beraten mündet im Januar in einer sechs­wö­chigen Ausstel­lung im Braun­schweiger Dom.

Die Ausstel­lung „wohnungslos – Leben in Braun­schweig“, die vom 17. Januar bis Ende Februar 2019 im Braun­schweiger Dom zu sehen sein wird, soll die Augen öffnen für die Sorgen und Nöte wohnungs­loser Menschen. Sechs von ihnen und eine Gruppe Punker haben dafür Kameras in die Hand genommen und fotogra­fiert, wie sie ihre Lebens­um­stände sehen. Die Verant­wort­li­chen des Projekts, Uwe Söhl und Klaus G. Kohn, haben die rund zweitau­send Fotos gesammelt und gesichtet. Jetzt wählen sie aus, welche es in die Ausstel­lung schaffen. Manchmal sagt ein Bild tatsäch­lich mehr als tausend Worte. Wer ein wenig Empathie besitzt, dem werden beim Betrachten der Fotos die Probleme bewusst, mit denen die mindes­tens 450 wohnungs­losen Menschen in Braun­schweig zu kämpfen haben.

„Mit dem Projekt geht es uns in erster Linie darum, Aufmerk­sam­keit und Öffent­lich­keit für die Situation von Wohnungs­losen zu schaffen. Sie haben keine Lobby, demons­trieren nicht und bleiben zumeist lieber im Verbor­genen, oft aus Scham, weil es ihnen peinlich ist, am Rande der Gesell­schaft zu stehen und arm zu sein“, verdeut­licht Uwe Söhl, der früherer Referent für Sozial­fragen beim Diako­ni­schen Werk Braun­schweig war und sich in diesem Projekt der Diako­ni­schen Gesell­schaft Wohnen und Beraten als Pensionär ehren­amt­lich engagiert.

„Ohne Unter­stüt­zung ist es für Menschen auf der Straße nicht möglich, eine Wohnung zu bekommen. Damit mehr Unter­stüt­zung geschieht und etwas gegen die Wohnungs­lo­sig­keit unter­nommen wird, habe ich mich an diesem Fotopro­jekt beteiligt“, erläutert eine 42 Jahre alter Mann. Er hatte acht Jahre ohne eigene Wohnung, meist auf der Straße gelebt. Jetzt hat er endlich wieder eine Wohnung gefunden und ist glücklich, dem Teufels­kreis aus sozialer Benach­tei­li­gung, Wohnungsnot und Isolation entkommen zu sein.

Uwe Söhl war der Initiator, nach einem Anruf eines städti­schen Mitar­bei­ters, der ein ähnliches Projekt in Hannover gesehen hatte. Söhl fragte bei Barbara Horn und Viola Weihe, Sozial­ar­bei­te­rinnen im Tages­treff Iglu, der Anlauf­stelle für Wohnungs­lose und sozial Benach­tei­ligte, ob sie sich so ein Fotopro­jekt vorstellen könnten und rannte offene Türen ein. Schließ­lich fanden sich sechs Personen und eine Gruppe Punker, die teilnehmen wollten. Das Projekt wird gefördert von der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz sowie der Domstif­tung und der Stiftung Nieder­säch­si­sche Wohnungs­lo­sen­hilfe.

„Es gab keinerlei Vorgaben für die Teilnehmer. Sie sollten mit einer einfachen Digital­ka­mera ausschließ­lich ihre Sicht auf ihr Leben in Braun­schweig dokumen­tieren. Heraus­ge­kommen sind ganz unter­schied­liche Fotos mit ganz unter­schied­li­chen Ansätzen und Quali­täten. Eine Teilneh­merin hat eher touris­ti­sche Fotos gemacht, ein anderer hat sehr detail­liert seinen Tages­ab­lauf nachge­zeichnet und wieder ein anderer hat einfach Schnapp­schüsse gemacht“, berichtet G. Klaus Kohn, mittler­weile profes­sio­neller Fotograf, aber zuvor Sozial­ar­beiter. Er ist der Kurator der Ausstel­lung.

Gemein ist allen Fotos, dass sie beim Betrachter Nachdenken auslösen. Warum ist das dem Fotografen jetzt wichtig gewesen? Was für Folge­rungen kann ich daraus ziehen? Ist das ein Hilfe­schrei? Die Teilnehmer des Projekts haben sich in regel­mä­ßigen Treffen über die Motive ausge­tauscht, disku­tiert, sich inspi­riert. „Es waren sehr offene, harmo­ni­sche und mutma­chende Gespräche“, meint Kohn. Das Projekt habe das Selbst­wert­ge­fühl der Teilnehmer zweifels­frei gestärkt. Viele Wohnungs­lose hätten nicht mehr die Energie und die Hoffnung, auf ihre Probleme aufmerksam zu machen, das haben jetzt die Fotografen für sie stell­ver­tre­tend getan.

Eine 82 Jahre alte Teilneh­merin am Projekt beschreibt, was sie motiviert hat: „An dem Fotopro­jekt habe ich mich beteiligt, weil mir eine eigene Wohnung fehlt. Bis 2008 lebte ich in München, fast 50 Jahre lang. Danach war ich in Spanien und habe mich um Tiere gekümmert, vor allem Esel. Seit Anfang 2018 bin ich in dem schönen Braun­schweig. Zuerst bin ich bei Bekannten unter­ge­kommen, nun in einer städti­schen Unter­kunft.“ Zitate wie dieses werden auf Tafeln unter den Fotos stehen. Sie sollen dem Betrachter verdeut­li­chen wie dringend Sozial­woh­nungen benötigt werden.

Uwe Söhl nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, seine Stimme für sozial Benach­tei­ligte zu erheben. „Die Stadt muss selbst mehr preis­werten Wohnraum anmieten, um die Notsi­tua­tion der Wohnungs­losen zu verbes­sern. Da passiert zu wenig“, sagt er. Auf dem freien Wohnungs­markt seien die betrof­fenen Menschen nahezu aussichtslos unterwegs, weil private Vermieter Vorbe­halte gegen sie hätten, weil sie um die Pünkt­liche Überwei­sung der Miete oder Vanda­lismus fürch­teten.

Zur Ausstel­lungs­er­öff­nung werden rund 300 Einla­dungen verschickt. Es geht Uwe Söhl, Klaus Kohn und der Diako­ni­schen Gesell­schaft Wohnen und Beraten vor allem darum, Multi­pli­ka­toren mit der Proble­matik Wohnungs­lo­sig­keit zu konfron­tieren. Natürlich werden zum Beispiel Oberbür­ger­meister Ulrich Markurth, die Vorstände der großen Wohnungs­bau­ge­sell­schaften und die Ratsfrak­tionen einge­laden. Schließ­lich soll sich ja etwas ändern für die Wohnungs­losen in Braun­schweig. Carola Reimann übrigen, Nieder­sachsen Sozial­mi­nis­terin, hat schon zugesagt.

Wer eine Wohnung zu vermieten hat und helfen will, der wendet sich an den Tages­treff Iglu, Wilhelmstr. 85, 38100 Braun­schweig (Tel.: 0531 12167839 oder E‑Mail: b.horn@diakonie-dwb.de).

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