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Tragische Figuren wurden zu Originalen

Rechen-August, Deutscher Hermann, Teeonkel und Harfen-Agnes an der Fassade des ehemaligen Geschäfts von Schugmacher-Meister Goerke am Platz der Deutschen Einheit. Foto: meyermedia
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Braunschweigs skurrile Ecken und andere Merkwürdigkeiten, Folge 21: Harfen-Agnes, Rechen-August, Deutschem Hermann und Teeonkel und anderen.

Die Braunschweiger Originale sind erstaunlicherweise noch immer präsent in unserer Stadt. Sie finden sich am Rathausneubau auf einer Fotokollage, ergänzt mit einer Tafel und ihren Lebensdaten. Es gibt sie als Figuren an Türgriffen, wie zum Beispiel  Harfen-Agnes und Rechen-August an einer Rathaustür, sie sind bei Umzügen des Braunschweiger Karnevals dabei, waren einst als Figuren an der Tür des Bekleidungshauses E.F. Witting in der Schuhstraße. Es gab sie als gezeichnete Figuren auch auf Bierdeckeln und Biergläsern einer hiesigen Brauerei. Schließlich sind sie – zusammen mit Till Eulenspiegel – sogar als Souvenir als Zinnfigur zu erwerben.

Moment mal! Geht diese Vermarktung dieser Sonderlinge nicht eigentlich etwas zu weit? Oder anders gefragt: Wann ist man überhaupt ein „Original“? Wir kennen Harfen-Agnes, Rechen-August, den Deutschen Hermann und den Teeonkel. Alle sind vor langer Zeit durch unsere Stadt gezogen, längst verstorben – aber noch nicht vergessen. Und Teddy Wiener? Der „älteste Teenager Deutschlands“, wie er sich selbst nannte, wenn er musizierend durch die Braunschweiger Lokale zog oder bei seinem Freund Guido Schmidt aufspielte („Seitdem wir Rentner sind….“ auch bei Youtube). Und Klaus Hoffmeister, der „Prediger von Braunschweig“, den wohl jeder schon einmal bei seinen Schimpftiraden in der Fußgängerzone erlebt hat? Vermutlich gibt es noch viele andere, ähnlicher, skurriler Menschen in unserer Stadt.

Ich erinnere mich an den dürren, alten Mann, der oft in der Neuen Straße seine Musik von einem Gerät abspielte, sich einen Schleier über den Kopf hielt und dazu tanzte. Und die alte Dame, stets im eleganten Kostüm und mit weißen Spitzenhandschuhen, die unvermutet mitten durch den Verkehr über die Fahrbahn lief. Und den jüngeren, kräftigen Mann, der mittels einer langen Holzstange die Container nach Leergut durchsuchte… Alles Originale? In ein paar Jahren als Zinnfiguren oder auf Biergläsern zu finden? Wohl kaum. Was also macht ein Original aus?

Nehmen wir zunächst einmal Harfen-Agnes, die es inzwischen ja schon zu besonderen Ehren als Figur in einem eigenen Stück oder in den Eitner/Schanz-Stücken gebracht hat. Tragischer geht es kaum noch in einem Leben zu als es die Agnes Adolphine Agathe Schosnoski (24.1.1866 – 2.9.1939) durchlitten hat. Ihre Kindheit in der Erziehungsanstalt von Bevern wurde durch eine Dienstbotenausbildung abgelöst, die sie vorzeitig abbrach. Durch die Straßen und Kneipen Braunschweigs zog sie dann zunächst noch mit ihrem Vater, nach dessen Tod allein oder auch mit einem Gefährten. Ihre Lieder, teilweise selbst gedichtet, begleitete sie auf ihrer Gitarre, die sie mit bunten Bändern versehen hatte. Ihr Vortrag erfolgte in der Braunschweiger Mundart, das bekannteste Couplet dürfte das vom Schuster geworden sein: „Mensch, sei helle, auch wenn es duster ist (Mensch saa helle, un wenn’s auch duster is)“. Während ihrer Touren erlitt sie gelegentlich epileptische Anfälle, was sie dem zusätzlichen Spott der Gassenjungen aussetzte. Meine Großmutter erzählte mir einst die Geschichte, dass ihr jemand einen „Pferdeapfel“ ins Gesicht warf, der unglücklicherweise teilweise im aufgerissenen Mund landete und von ihr angeblich so kommentiert wurde: „So, dort bleibt er, bis die Polizei kommt“. Naja, das im Dialekt und unter Sprachschwierigkeiten…

Rechen-August wurde August Tischer genannt (8.8.1882 – 13.6.1928). August bewies seine einseitige Begabung schon im Kindesalter und war in der Lage, komplizierte Rechengänge innerhalb kürzester Zeit im Kopf zu lösen. Auch er war in den Braunschweiger Lokalen unterwegs, wo er sich seinen Lebensunterhalt verdiente. Gegen entsprechende Bezahlung löste er die Aufgaben der Gäste, wobei sein Auftritt fast schon professionell wirkte. Er trug einen schwarzen Gehrock mit weißem Binder, eine weiße Chrysantheme im Knopfloch und einen zerbeulten Zylinder. Während er die Aufgabe löste, tippte er sich mit dem Finger an die Stirn. Oft wurde er von Studenten herausgefordert, die das Ergebnis mittels Rechenschieber und anderer Hilfsmittel kontrollierten.

Tee-Onkel, auch ‚Kühner mit dem Pappkarton‘, war Alfred Kühner (30.3.1872 – 10.6.1945), der Sohn eines Zigarrenfabrikanten und ein gescheiterter Drogist. Er lief als Straßenhändler stets mit einem Karton in der Hand umher und verkaufte daraus Schuhcreme und Seife, oft aber auch irgendwelche getrockneten Kräuter, die angeblich für Teeaufgüsse geeignet waren. 1943 kam er ins Altersheim der Neuerkeröder Anstalten.

Von allen tragischen Figuren scheint aber der „Deutsche Hermann“ das schlimmste Schicksal erlebt zu haben, das ihn zu dem machte, was ihn schließlich zum „Original“ werden ließ. Julius Skasa (21.4.1852 – 16.2.1927) war Teilnehmer des Krieges 1870/71 und wurde schließlich zum Feldwebel befördert. Seine Entlassung aus dem Militär erfolgte unehrenhaft, man warf ihm den Tod eines Rekruten beim Schwimmunterricht vor. Feldwebel Skasa soll den über Herzschmerzen klagenden Mann ins Wasser geschubst haben, der dabei ertrank. In den folgenden Jahren sah man Skasa, der dieses Erlebnis nie überwinden konnte, als Scherenschleifer durch Braunschweig ziehen. Irgendwann trug er eine Uniformjacke und -mütze, dazu ein Koppel, alles irgendwelche abgelegten und nicht zuzuordnende Teile. Fand er etwas Blinkendes auf der Straße, so heftete er sich das an die Jacke, egal, ob Münze, Kronkorken oder auch Orden. Gab man ihm ein paar Groschen, so grüßte er militärisch und schlug die Hacken zusammen.

Diese vier Menschen werden heute gern als „historische Originale“ bezeichnet. Dabei handelte es sich doch bei allen vier um bedauernswerte Mitbürger, denen das Leben nicht sonderlich gut mitgespielt hatte. Mit ihren begrenzten Möglichkeiten schlugen sie sich mehr schlecht als recht durch, und zu lachen war ihnen wohl kaum dabei. Gelacht haben die anderen über sie, aber auch über den Straßenfeger Gustav Karlanke von der Wallstraße und seine Art, ebenfalls in Mundart, die Leute zum Schmunzeln brachte. Der Titel „Cammerfeger“ haftete ihm als Ehrentitel an, und wenn er zur Arbeit ging, hatte er seinen Besen wie ein Gewehr geschultert. Oder der Diener Andreas Stanze, über den Günther Starke in seinem Buch Braunschweiger Kinder ebenso humorig berichtet wie über Heinrich Noppe, ein echtes „Schlitzohr“ oder Fritz Papendick, „Fritze“, der sich stets beim Hoftheater am Hagenmarkt herumtrieb, oder Felix Balekowski, der ebenfalls in Uniformteilen gekleidet stadtbekannt war.

Ein Original war mit Sicherheit auch der Aufseher im Schlosspark Johann Julius Pieper, der aufgrund seines roten Uniformkragens nur „Pieper mit dem roten Kragen“ genannt wurde. Er war der Schrecken der Kinder, die im Schlosspark tobten, den sie allein nicht betreten durften. Der Spottvers der Kinder: „Pieper mit dem roten Kragen wollte alle Kinder schlagen…“ Und ein leidenschaftlicher „Kippensammler“ war der Parkaufseher. Herzog Wilhelm (gestorben 1884) warf nämlich seine teuren Zigarrenreste immer am Parkeingang weg – und Pieper sammelte sie auf, um sie genüsslich zu Ende zu rauchen.

Warum allerdings heute kaum auch noch Karl Christian Julius Oskar Fischer kennt, ist nicht zu erklären. Der stets nur „Oskar“ gerufene Schauspieler am Braunschweiger Hoftheater (30.8.1840 – 7.4.1896) kam 1862 nach Braunschweig und wurde als Komiker mit parodistischem Talent rasch sehr bekannt und beliebt, auch durch seine plattdeutschen Couplets. In seine Texte flocht er auf der Bühne gern ein paar witzige, lokale Anspielungen ein und verärgerte damit auch einmal Herzog Wilhelm. Sein Grab auf dem Hauptfriedhof schmückt eine Porträtbüste von  W. Habich. Überliefert von ihm wurden Späße wie beim Betreten des Schreibwarengeschäftes Störig am Kohlmarkt: „Stör ich? Dann komm ich später wieder.“ Einem Kritiker mit dem Namen Schade heftete er nach einem Verriss einen Zettel auf den Rücken: „Durch Schaden wird man klug“, und schließlich trug er gern in der Öffentlichkeit ein Spottlied über die Pferdebahn vor, die oft aus den Gleisen sprang: „Die Pferdebahn, die Pferdebahn, die macht uns viel Pläsier, doch woll’n wir schnell am Ziele sein, denn gehn zu Fuße wir.“

Sie alle haben es nicht geschafft, als „Braunschweiger Originale“ breiten Kreisen in Erinnerung zu bleiben – seltsam genug, denn auch sie waren eigenwillige Charaktere, äußerlich schon auffallend, im Stadtbild ständig präsent, und doch in Vergessenheit versunken.

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