Unsere frühe Geschichte wurde umgeschrieben

Foto 1: Ministerpräsident Stephan Weil und Oberbürgermeister Ulrich Markurth (rechts) besuchten die Ausstellung im Landesmuseum. Foto: SBK/Andreas Greiner-Napp
Foto 1: Ministerpräsident Stephan Weil und Oberbürgermeister Ulrich Markurth (rechts) besuchten die Ausstellung im Landesmuseum. Foto: SBK/Andreas Greiner-Napp

Ausstel­lung „Saxones“ im Braun­schwei­gi­schen Landes­mu­seum räumt auf mit Widukinds Sachsen­ge­schichte

Faszi­nie­rende, überle­bens­große Darstel­lungen von Menschen, die im ersten Jahrtau­send  auf dem Gebiet des heutigen Nieder­sachsen lebten, stehen unüber­sehbar im Zentrum der laufenden Ausstel­lung „Saxones“, die noch bis 2. Februar des nächsten Jahres im Braun­schwei­gi­schen Landes­mu­seum zu sehen ist.  Anhand der Lebens­ge­schichten der neun vom nieder­län­di­schen Künstler Kelvin Wilson porträ­tierten Männern, Frauen und Kindern können die Besucher eintau­chen in jene Zeit, als das Land zwischen Nordsee und Harz begann eigene Identi­täten zu entwi­ckeln. Die Ausstel­lung war zuvor bereits erfolg­reich im Landes­mu­seum Hannover gezeigt worden.

„Um die Funda­mente Europas zu verstehen, muss man den Blick weit zurück­werfen, nämlich in jene Jahrhun­derte, als das römische Reich ein Vakuum hinter­lassen hat und sich in den vom Imperium zurück­ge­las­senen Räumen und an seinen Rändern neue Gesell­schaften bildeten, wie eben auch in den Regionen, die heute zu Nieder­sachsen gehören“, erläutert Heike Pöppel­mann, Direk­torin des Braun­schwei­gi­schen Landes­mu­seums. Das heutige Nieder­sachsen ist erst durch einen Verwal­tungsakt nach dem zweiten Weltkrieg entstanden, als das Land Hannover mit den Freistaaten Braun­schweig, Oldenburg und Schaum­burg-Lippe zusam­men­ge­schlossen wurde.

Geschichte wurde natürlich auch davor geschrieben, etwa im bekannten „Nieder­sach­sen­lied“, dass die vom Mönch Widukind im Kloster Corvey aufge­schrie­bene „Sachsen­ge­schichte“ aufgreift und vom heroi­schen, aber vergeb­li­chen Kampf des gleich­na­migen Herzogs Widukind gegen Karl den Großen erzählt. Politisch war das 1926 vom im Harz lebenden Hermann Grote verfassten und kompo­nierten Liedes vor allem nach der Gründung Nieder­sach­sens 1946 opportun. Es sollte nieder­säch­si­sche Identität für das wenig homogene neue Bundes­land befördern. „Wir sind die Nieder­sachsen, sturmfest und erdver­wachsen, Heil Herzog Widukinds Stamm“, heißt es da. Die wissen­schaft­liche Wahrheit sieht aber anders aus, als in den Strophen des „Nieder­sa­chen­liedes“.

Die bekannte Erzählung von der Eroberung der Gebiete zwischen Nordsee und Harz durch den germa­ni­schen Stamm der „Saxones“ und die angeb­liche frühe Demokratie wurden kritisch hinter­fragt. Plünderer und Piraten auf der Nordsee wurden demnach am Anfang des Jahrtau­sends als „Saxones“  bezeichnet, einen Stamm der Sachsen kannten die Römer nicht. Erst zum Ende des ersten Jahrtau­sends habe sich diese negative Fremd­be­zeich­nung zu einer eigenen Identität entwi­ckelt, heißt es auf den überaus infor­ma­tiven Inter­net­seiten zur Ausstel­lung. Die neuesten Forschungs­er­geb­nisse werden in der Ausstel­lung erstmals einer breiten Öffent­lich­keit präsen­tiert.

Kuratorin der Ausstel­lung „Saxones“ ist  Babette Ludowici. Sie ist seit 2017 Abtei­lungs­lei­terin für Archäo­logie am Braun­schwei­gi­schen Landes­mu­seum und führt seit 2005 die so genannte „Sachsen­for­schung“. Sie zeigte im Rahmen einer umfas­senden Studie zum Bestat­tungs­brauchtum des 1. Jahrtau­sends im Braun­schweiger Land auf, dass die tradi­tio­nelle Erzählung von einer sächsi­schen Landnahme am Harz in der sogenannten „Völker­wan­de­rungs­zeit“ archäo­lo­gisch nicht begründbar ist. Die „Sachsen­for­schung“ am Braun­schwei­gi­schen Landes­mu­seum ist eng vernetzt mit Wissen­schaft­lern an skandi­na­vi­schen, briti­schen, nieder­län­di­schen, belgi­schen und polni­schen Museen und Univer­si­täten.

Initiator der landes­ge­schicht­lich ausge­rich­teten „Sachsen­for­schung“ in Nieder­sachsen war Albert Genrich, der von 1954 bis 1977 am Landes­mu­seum Hannover tätig war. Von Beginn an und bis heute mit der „Sachsen­for­schung“ verknüpft ist das 1949 ins Leben gerufene Inter­na­tio­nale Sachsen­sym­po­sion, dem mehr als 160 Archäo­logen und Histo­riker angehören. Von 1977 bis 2004 wurde die „Sachsen­for­schung“ von Hans-Jürgen Häßler am Landes­mu­seum Hannover fortge­führt. Seine Studie zu frühge­schicht­li­chen Bestat­tungs­plätzen und Grabfunden in Nieder­sachsen haben der Forschung zum 1. Jahrtau­send in Nordwest­eu­ropa wesent­liche Impulse verliehen.

So beruhen die geschil­derten Schick­sale der neun Männer, Frauen und Kinder, die im Mittel­punkt der Ausstel­lung stehen, jeweils auf archäo­lo­gi­schen Funden. Die Gräber wurden in Wremen, Issendorf, Hanken­bostel, Grethem, Hiddes­torf, Sarstedt, Beckum, Corvey und Bad Ganders­heim entdeckt und ausge­wertet.

Die Ausstel­lung verdeut­licht, dass auf dem Gebiet des heutigen Nieder­sachsen verschie­dene Kulturen aufein­an­der­trafen und um die Macht rangen. Es ging um Einfluss und Wohlstand. Und es gab gewalt­tä­tige Ausein­an­der­set­zungen, politi­sche Ehen oder erkaufte Loyali­täten. Präsen­tiert werden umfang­reiche Ensembles archäo­lo­gi­scher Funde und promi­nente Einzel­ob­jekte, darunter edler Schmuck und Waffen aus Gräbern, einzig­ar­tige Handschriften und könig­liche Urkunden.

Ermög­licht wurde die Ausstel­lung durch die Unter­stüt­zung seitens des Nieder­säch­si­schen Minis­te­riums für Wissen­schaft und Kultur, der Stiftung Nieder­sachsen, der Kultur­stif­tung der Länder, der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz sowie der Richard Borek Stiftung. Schirm­herr ist Minis­ter­prä­si­dent Stephan Weil.

Fakten

Öffnungs­zeiten: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 17 Uhr (jeden ersten Dienstag im Monat bis 20 Uhr )

Eintritt: Erwach­sene 10  Euro / ermäßigt 8 Euro, Kinder /Jugendliche (6–17 Jahre) 3 Euro, freier Eintritt für Kinder bis 5 Jahre. Famili­en­karten von 13 bis 20 Euro.

Führungs­bu­chung: Telefon: 0531–1225 2424, E‑Mail: buchung.blm@3landesmuseen.de

Ausstel­lungsort: Braun­schwei­gi­sches Landes­mu­seum, Burgplatz 1, 38100 Braun­schweig

Mehr unter: https://www.3landesmuseen.de/Saxones.1850.0.html

 

 

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