Wie aus einem vermeint­li­chen PR-Coup die „Löwen­af­färe“ wurde

Löwenarena auf dem Burgplatz. Foto: Stadtarchiv Braunschweig

Die Tiere wurden am 6. Oktober 1927 in den Käfig auf dem Burgplatz gelassen und mithilfe einiger Fleisch­bro­cken auf den Löwen­so­ckel gelockt.
Am 30. September 1927 kontak­tierte Dr. Wiehe, der Leiter des Städti­schen Verkehrs- und Presse­amtes, Zirkus­di­rektor Hans Stosch-Sarrasani: „Ihre Anwesen­heit in Braun­schweig, der Löwen­stadt, hat mich auf einen Gedanken gebracht, der für Sie von größtem Interesse sein wird.“ Es sei technisch möglich, den Burgplatz mit dem Löwen­denkmal abzusperren und einige echte Löwen am Fuße zu fotogra­fieren und zu filmen. Die Aufnahmen sollten werbe­tech­nisch genutzt werden, „Sarra­sanis Löwen in der Löwen­stadt Braun­schweig“. Die Polizei gab ihr Einver­ständnis und so meldete die Presse: „Mit Sarrasani sind die Könige der Wüste in die Löwen­stadt einge­zogen. Was liegt näher, als zwischen den lebenden Nachfol­gern des stolzen Wappen­tieres und ihm selbst eine Verbin­dung, die Jahrtau­sende überbrückte, herzu­stellen.“

Die Aktion fand großen Zuspruch bei der Braun­schweiger Bevöl­ke­rung. Foto: Stadt­ar­chiv Braun­schweig

Sehr großer Andrang

Der 6. Oktober stand dann „im Zeichen des Löwen“. Um den grünen Rasen­platz um den Burglöwen wurden ein Zaun und der Vorfüh­rungs­käfig aufgebaut, das Käfignetz über dem Rücken des Löwen gespannt. Das gewaltige Zuschau­er­inter­esse überraschte die Organi­sa­toren, schließ­lich: „Wenn auch alle Siche­rungen getroffen worden sind, muss das Publikum doch darauf aufmerksam gemacht werden, dass es auf seine eigene Gefahr hin den Burgplatz betritt.“ An den Fenstern der umlie­genden Häuser, auf den Dächern, die Jungen kletterten auf den Baum auf dem Burgplatz. Unter dem Andrang auf dem Platz brach ein Zaun zusammen, die Polizisten hatten Mühe, die Menge auf Abstand zu halten. Die Feuerwehr hatte Schläuche bereit­ge­legt, um sie notfalls gegen die Löwen einzu­setzen – nun erwies es sich als notwen­diger, sie gegen die Menschen zu richten.

„Als der Durch­bruch der Schutz­mann­kette unver­meid­lich schien, wurde das Kommando zum Spritzen gegeben, und im nächsten Augen­blick ergoss sich der Regen über die Menge. Das half – obwohl freilich die Polizei in der vordersten Reihe das meiste abbekommen hatte, sodass den anderen Betrof­fenen immer noch die Schaden­freude als Trost blieb“, wie die Braun­schwei­gi­schen Neuesten Nachrichten berich­teten. Die Löwen wurden in den Käfig gelassen und konnten von dem Dompteur im Kostüm Heinrichs des Löwen und unter der Musik der „Argen­ti­ni­er­ka­pelle“ mithilfe einiger Fleisch­bro­cken auf den Löwen­so­ckel gelockt werden. „Zu den ‚histo­ri­schen‘ Löwen-Kratz­spuren am Dom sind nun also noch funkel­na­gel­neue am Denkmal dazuge­kommen.“

Zwei Junge Löwen als Gastge­schenk

Schließ­lich überreichte Zirkus­di­rektor Stosch-Sarrasani Oberbür­ger­meister Paul Trautmann zwei junge Löwen (mit Seiden­schleif­chen, eines blau-gelb, eines rot-weiß) vor dem Rathaus. Dieser schien begeis­tert, „Jeden­falls fühlten sich die beiden Tierchen auf seinen Armen sichtlich wohl.“ Zum Dank erhielt Stosch-Sarrasani einen kleinen Bronze­löwen und einen Korb mit Braun­schweiger Spezia­li­täten.
Oberbür­ger­meister Trautmann bedankte sich einige Tage später noch einmal schrift­lich bei Stosch-Sarrasani für das „prächtige und zugleich origi­nelle Geschenk“. „Glück­li­cher konnte die Verknüp­fung der Zeit, die Braun­schweigs Entwick­lung bestimmte, und der Gegenwart nicht herge­stellt werden als durch dieses Geschenk.“

Oberbür­ger­meister Trautmann bekam zwei kleine Löwen überreicht. Foto: Stadt­ar­chiv Braun­schweig

Es gab heftige Kritik

Doch die so fabelhaft klingende Idee des Dr. Wiehe rief auch Kritiker auf den Plan. Aus Mühlheim traf ein Brief ein, der Schreiber konnte es sich nicht versagen, sein Erstaunen darüber auszu­drü­cken, „weshalb Sie uns Menschen eines aufge­klärten Zeital­ters, – nein, ich gehe weiter,- uns Menschen einer christ­li­chen Weltan­schauung, etwas Derar­tiges aufti­schen.“ Das konnte Dr. Wiehe nicht unkom­men­tiert lassen und räumte ein, Netze und Gitter hätten „gewiss die Gesamt­wir­kung stark beein­träch­tigt“. „Wenn Sie aber Gelegen­heit gehabt hätten, Glied der Zuschau­er­masse auf dem Burgplatz zu sein, wenn Sie die Begeis­te­rung mit geatmet hätten, die Zehntau­sende auf diesem kleinen Platz zusam­men­führten, die eine findige Jugend auf Bäume und Dächer steigen ließ, dann hätten Sie gespürt, wie das alte urtüm­liche Volks­schau­spiel auf dem alten Burgplatz zu neuem Leben erwachte.“ Das beruhigte den Kritiker immerhin.
Aber auch die Presse reagierte längst nicht so begeis­tert auf die Bilder, wie Dr. Wiehe es sich ausgemalt hatte. Die Berliner Illus­trierte Zeitung antwor­tete auf seine Rückfrage: „Es ist richtig, dass wir sehr viele Bilder von der Löwen­hul­di­gung bekommen haben, aber die Aufnahmen erschienen uns nicht schön. Die ganze Veran­stal­tung machte auf den Beschauer der Bilder keinen angenehmen Eindruck, obgleich sie vielleicht in Wirklich­keit sehr nett war. Die Aufnahme von Herrn Oberbür­ger­meister Dr. Trautmann mit den Löwen ist gewiss ein hübsches Bild. Man hat aber diese Aufnahmen von bekannten Persön­lich­keiten mit kleinen Löwen schon so oft gesehen, dass diese Bilder etwas banal wirken.“

Ärger mit dem Zirkus

Und dann kam noch Ärger mit dem Zirkus auf Dr. Wiehe zu. Ärgerlich meldete sich Zirkus­di­rektor Stosch-Sarrasani: „Entsinnen Sie sich noch, wie ich skeptisch war, als Sie mir die rosigen Verspre­chungen machten über den Bomben­er­folg an Reklame für mein Unter­nehmen bei der ‚Löwen­hul­di­gung‘. Ich schüt­telte immer nur den Kopf und sagte: für mich wird nichts dabei heraus­schauen. Nun haben wir den Salat! Fast die gesamte Reichs­presse hat wohl Bilder gebracht, hat auch wunderbar schön die Stadt Braun­schweig erwähnt, das rührige Verkehrs- und Presseamt, Sie sogar persön­lich, Herr Dr. Wiehe und den Herrn Oberbür­ger­meister, nur mich nicht, nur die Sarrasani-Schau nicht. Das ist tief betrüb­lich.“ Ob Dr. Wiehe den Hinweis auf den Zirkus nicht mitge­geben hatte – wie die Redak­tionen meinten – oder die Redak­tionen diesen einfach nicht mitge­druckt hätten – wie Dr. Wiehe sich vertei­digte – muss offen­bleiben, die „Löwen­af­färe“ jeden­falls raste, wie der Zirkus­di­rektor es formu­lierte.

Das ‚Geschenk des Zirkus‘ hatte auch für die Stadt Braun­schweig einige Folgen. Zunächst einmal finan­zi­elle, regel­mäßig stellte der Schlachthof, wo Traute und Männe – in Anlehnung an den Oberbür­ger­meister Trautmann – vorüber­ge­hend unter­ge­bracht wurden, seine Auslagen für Futter, Heu, Tierarzt­kosten etc. in Rechnung. Disku­tiert wurden in der Folge verschie­dene Standorte und Möglich­keiten der Unter­brin­gung – als Grund­stock zur Errich­tung eines Zoos oder lediglich ein Sonder­zwinger für die Wappen­tiere der Stadt. Der Rathaushof, der Burgplatz und die Burg Dankwar­derode, die das Verkehrs- und Presseamt favori­sierte, wurden schnell ausge­schlossen – die Bewohner der umlie­genden Häuser würden sich bald über das Gebrüll und den Geruch der Löwen beklagen.

Zwinger auf dem Schlachthof

Konkrete Pläne gab es für die Errich­tung einer Zwinger­an­lage auf dem Gelände der alten Tennis­plätze im Bürger­park. „Der Platz ist sonnig und frei, auch steht eine Beläs­ti­gung von Bewohnern der in der Nähe liegenden Straßen Henne­berg­straße und Am Bürger­park durch Geruch und Gebrüll mit Rücksicht auf die immerhin doch genügend weite Entfer­nung wohl nicht zu befürchten.“ Auch könnten sie hier vom Publikum besich­tigt werden. Schließ­lich entschied man sich jedoch wohl auch aus Kosten­gründen pragma­tisch dafür, die Zwinger­räume im Schlacht- und Viehhof etwas zu erweitern.

Traute starb bereits am 15. März 1928, Männe am 3. Juni 1931, beide an einer perni­ziösen Anämie (Vitamin B12-Mangel), vermut­lich eine Folge von Inzucht im Zirkus. Die verstor­benen Tiere wurden vom Zirkus stets durch neue ersetzt (Putzi bzw. Traute II, Saida, Stummel und Lux), wann der letzte starb, kann nicht mehr ermittelt werden. Die Löwen wurden im Natur­his­to­ri­schen Museum präpa­riert und präsen­tiert, ihr heutiger Verbleib ist jedoch ungeklärt.

(Der Beitrag erschien zuerst auf dem Braun­schweiger Geschichts­blog)

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