1875 nächtigte Richard Wagner in Haus Nr. 7

Gördelingerstraße 44 und 43, Südwestansicht, um 1940. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmalpflege

Verschwun­dene Kostbar­keiten, Folge 29: die Görde­lin­ger­straße – Fachwerk, Patrizier und Kaufmanns­häuser

Nach dem vorhe­rigen Beitrag in dieser Reihe betrachten wir nach der Schüt­zen­straße heute einen weiteren histo­ri­schen Straßenzug im einstigen Kernbe­reich der Altstadt: die Görde­lin­ger­straße. Schon ihre Einmün­dung direkt auf den Altstadt­markt zeigt: Sie war eine der führenden Adressen im einst bedeu­tendsten Weichbild des alten Braun­schweigs. Sie verläuft in nördliche Richtung mit leichtem Knick bis zur Langen Straße und bildet damit eine wichtige Verkehrs­achse für die Erschlie­ßung der Innen­stadt. Die Mündung auf der Langen Straße ist jedoch ein Ergebnis des Wieder­auf­baus nach dem Zweiten Weltkrieg. Ursprüng­lich stieß die Görde­lin­ger­straße auf den Straßenzug Hintern Brüdern und endete hier. Sonst wurde der Straßen­ver­lauf beim Wieder­aufbau weitge­hend beibe­halten.

Der Name der Görde­lin­ger­straße gehört zu den frühesten in der Löwen­stadt überlie­ferten Ortsbe­zeich­nungen. Bereits 1248 erfolgte mit der Erwähnung eines Wicpertus de golin­ge­st­rate ihre erste indirekte Erwähnung. In den Archi­va­lien wurde sie 1268 Goderin­ge­st­rate und 1298 als Godelin­ge­st­rate genannt. Die heutige Bezeich­nung ist schließ­lich seit der Barock­zeit üblich. Ob der Straßen­name von gorde­linge (einer alten Bezeich­nung für Gürtel­träger) abgeleitet werden kann, ist fraglich. Grund für diese Annahme war in der Geschichts­schrei­bung des 19. Jahrhun­derts der Bezug zum nahege­le­genen Brüdern­kloster – Gürtel sind Bestand­teile der Kleidung (Habit) der Franzis­ka­ner­mönche. Vermut­lich geht der Name jedoch auf eine hier im Mittel­alter ansässige Familie der Goderinge oder Godelinge zurück.

Abbild des sozialen Gefüges

Görde­lin­ger­straße 38, Westfas­sade, um 1930 Foto: aus Flesche, Brunswiek, 1932

Vor 1944 bildete die Görde­lin­ger­straße ein geschlos­senes Ensemble histo­ri­scher Bürger­häuser in großer Mannig­fal­tig­keit. Der Straßenzug bot eine lebendige Abfolge der Baustile von der Gotik bis zum Klassi­zismus – mit Spitzen­werken des privaten Profan­baus. In der Südhälfte der Straße – in der Nähe zum Altstadt­markt – standen die großen und aufwendig gestal­teten Patri­zi­er­häuser. Ihre steinerne Bausub­stanz reichte bisweilen in das 13. Jahrhun­dert zurück. Im weiteren Verlauf nach Norden folgten ausschließ­lich Fachwerk­häuser auf klein­tei­liger Parzel­lie­rung, ein Abbild des sozialen Gefüges in der mittel­al­ter­li­chen Stadt.

Eines der „kleinen“ Fachwerk­ge­bäude gehörte jedoch zu den bedeu­tendsten Denkmä­lern spätmit­tel­al­ter­li­cher Holzbau­kunst in der Stadt: das Haus Görde­lin­ger­straße 38. Das um 1470 entstan­dene Bauwerk zeigte ein stark vorkra­gendes Oberge­schoss mit reichen Schnit­ze­reien: figürlich gestal­tete Knaggen und Balken­köpfe sowie ein Treppen­fries mit Fabel­wesen. Tierdar­stel­lungen waren auch an Knaggen und an einem Balken­kopf zu finden, so ein Fuchs mit erbeu­teter Gans und ein realis­tisch darge­stellter Hundekopf. Einer der letzten Vertreter des spätgo­ti­schen Fachwerks war der statt­liche Bau Görde­lin­ger­straße 19. Seine Schwell­balken trugen eine lange Inschrift mit der Datierung in das Jahr 1519 sowie einen Treppen­fries. Ein gedie­gener Spätba­rockbau in Fachwerk war das um 1760 errich­tete Haus Nr. 22. Um den Eindruck einer echten Symmetrie der mit leicht vorsprin­gendem Mittelbau und Zwerch­giebel gestal­teten Front zu erzeugen, spiegelte man die Rokoko-Portal­ar­chi­tektur des außer­mittig gelegenen Hausein­gangs auf die benach­barte Fenster­achse.

Noch in den 1970er Jahren abgetragen

Größtes Privat­haus der Görde­lin­ger­straße war das von Strom­beck­sche Haus (Nr. 43), dessen massiver mittel­al­ter­li­cher Kernbau 1584 einheit­lich in Renais­sance­formen umgestaltet wurde. Dabei erhielt es ein Oberge­schoss in Fachwerk. Von der wieder­auf­bau­fä­higen Ruine, die noch in den 1970er Jahren abgetragen wurde, blieb lediglich das prächtige Portal. Es kündet heute denkmal­haft isoliert vom einstigen baukul­tu­rellen Reichtum des Quartiers. In unmit­tel­barer Nachbar­schaft dieses Patri­zi­er­baus existierte mit Görde­lin­ger­straße 42 ein weiteres zweige­schos­siges Steinhaus mit Fachwerk­aufbau und Fassa­den­ge­stal­tung der Zeit um 1550.

Görde­lin­ger­straße 43, Renais­sance­portal. Foto: E. Arnhold

Südlicher Nachbar des Strom­beck­schen Hauses war dagegen ein bedeu­tender Barockbau des Landbau­meis­ters Hermann Korb. Der 1714 fertig­ge­stellte Steinbau wurde für den braun­schwei­gi­schen Postmeister Heinrich Georg Henneberg errichtet. Kennzei­chen der klar geglie­derten Fassade war ein Balkon mit geschwun­genem Gitter. Diese Fassade war für eine Wieder­her­stel­lung vorge­sehen, bevor sie schließ­lich ebenfalls verschwand. Auf das Henne­berg­sche Haus folgte die Bebauung Görde­lin­ger­straße 45/Neue Straße. Sie stellte eine Beson­der­heit im alten Braun­schweig dar: Der langge­streckte Fachwerkbau war im Erdge­schoss zur Neuen Straße (im 18. Jh.: Jungfern­stieg) mit einem Pfeiler-Lauben­gang ausge­stattet. Das Bauwerk entstand 1712 für die 1682 einge­rich­teten Braun­schweiger Waren­messen und war Schau­platz diplo­ma­ti­scher Friedens­ver­hand­lungen zur Beendi­gung des Nordi­schen Krieges. Sie endeten im Jahr 1714 ergeb­nislos … Der Nachfol­gebau von Friedrich Wilhelm Kraemer („Pfeiffer&Schmidt“, 1950–54) nimmt das Motiv des Lauben­gangs wieder auf.

Das erste Licht­spiel­haus der Stadt

Görde­lin­ger­straße 48, Westfas­sade, um 1930. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Auf der westli­chen Straßen­seite wurde mit dem Haus Nr. 7 in den 1950er Jahren eine barocke Fassade wieder­her­ge­stellt. Die schlichte Front stammt vermut­lich ebenfalls von Hermann Korb, die Bogen­öff­nungen im Erdge­schoss deuten auf die ursprüng­liche Nutzung als Messe­kauf­haus. Die „Messge­wölbe“ waren typisch für die großen Handels­häuser im Umfeld des Altstadt­marktes. Die klassi­zis­ti­schen Umbauten der Fassade wurden beim Wieder­aufbau rückgängig gemacht, ein Beispiel der „schöp­fe­ri­schen Denkmal­pflege“ jener Zeit. Im 19. Jahrhun­dert diente das Gebäude als Hotel – dort nächtigten 1875 Richard Wagner und seine Gemahlin Cosima zur Auffüh­rung des „Tannhäuser“ in Braun­schweig. Ein beacht­li­cher Spätba­rockbau war Görde­lin­ger­straße 48, der 1751 wiederum als Kaufmanns- und Messehaus nach Entwurf von Georg Christoph Sturm errichtet wurde.

Mit Zerstö­rung, Abbruch und Wieder­aufbau verschwand auch die kultur­his­to­ri­sche Tiefe dieser Altstadt­straße. Heute erinnert hier nichts mehr an den Kongress von 1714, an das ehemalige Postkontor im Henne­berg­schen Haus Nr. 44 oder an das erste Licht­spiel­haus in Braun­schweig, das 1906 im Eckhaus Görde­lin­ger­straße 45 eröffnet wurde. Auch die einstigen Messe­häuser mit ihren charak­te­ris­ti­schen Bogen­öff­nungen muss man heute mit der Lupe suchen.

Elmar Arnhold ist Bauhis­to­riker (Gebautes Erbe) und Stadt­teil­hei­mat­pfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröf­fent­licht er regel­mäßig Beiträge zu histo­ri­schen Bauten in Braun­schweig.

 

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