Braun­schweiger Chef-Theologin: „Die Kirche muss Heimat bieten“

Pfarrerin Kerstin Vogt (50) ist die neue Direktorin des Theologischen Zentrums und der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem. Sie folgt auf Dieter Rammler. Foto: Peter Sierigk
Pfarrerin Kerstin Vogt (50) ist die neue Direktorin des Theologischen Zentrums und der Evangelischen Akademie Abt Jerusalem. Sie folgt auf Dieter Rammler. Foto: Peter Sierigk

Pfarrerin Kerstin Vogt ist die neue Direk­torin des Theolo­gi­schen Zentrums. Sie spricht über die Heraus­for­de­rungen der Zukunft.

Katho­lisch getauft und doch durch und durch protes­tan­tisch: Kerstin Vogt hat beide Konfes­sionen hautnah erlebt. Die Mutter katho­lisch, der Vater evange­lisch. „Als Jugend­liche haben mich Martin Luther und seine Theologie derart faszi­niert, dass ich mich mit 15 Jahren habe konfir­mieren lassen und bewusst evange­lisch geworden bin“, sagt sie. Luther, der unerschro­ckene Refor­mator, der der Kirche die bis dahin unumstöß­liche alleinige Heils­ver­mitt­lung absprach und predigte, dass jeder Mensch seinen eigenen Zugang zu Gott und seinem Glauben finden müsse. „Ich fand seine Haltung überzeu­gend, dass es auf die Einstel­lung zu Gott ankommt und sich der Glaube nicht erschöpft in den Handlungen, die wir tun.“ Das traf ihr Inneres.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 25.11.2021 (Bezahl-Artikel)

Kerstin Vogt (50) ist die neue Direk­torin des Theolo­gi­schen Zentrums und der Evange­li­schen Akademie Abt Jerusalem in Braun­schweig, Nachfol­gerin von Dieter Rammler. Die Pfarrerin, geboren in Wiesbaden, kommt gerade­wegs von der Evange­li­schen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Dort war sie seit 2012 Studi­en­lei­terin an der Evange­li­schen Akademie Hofgeismar mit den Schwer­punkten Kultur, Spiri­tua­lität, inter­kon­fes­sio­neller Dialog und Gender­fragen.

Kunst, Kino und die Trans­for­ma­tion der Kirche

Die Documenta im nahe gelegenen Kassel, die wohl bedeu­tendste Schau zeitge­nös­si­scher Kunst, bot ihr immer wieder Stoff für frucht­brin­gende Diskus­sionen. Doch Kerstin Vogt liebt neben der Kunst auch das Theater und das Kino. Sie ist Mitglied der Evange­li­schen Filmjury auf Bundes­ebene, darf schon schauen, was noch nicht auf dem Markt ist, um die Filme bewerten und Empfeh­lungen geben zu können.

In der Akademie Hofgeismar hatte sie unter anderem auch eine Tagung über Wagner und Religion angeboten. „Aber bei allem habe ich immer auch theolo­gi­sche Fragen behandelt: Konfes­si­ons­lo­sig­keit, die Weiter­ent­wick­lung der Kirche.“ Die Trans­for­ma­tion des Religiösen – das sei ihr Schwer­punkt gewesen in Hofgeismar.

Sie freut sich auf ihre Aufgabe in Braun­schweig, will die Menschen in Diskurs bringen zu relevanten Fragen der Gegenwart. Die Evange­li­sche Akademie Abt Jerusalem versteht sich als Dialog­partner für Kirche und Gesell­schaft, als einen Ort, an dem öffent­lich und kontro­vers über Glaubens­fragen und ethische Heraus­for­de­rungen nachge­dacht und disku­tiert wird.

Sie sucht den Austausch mit Wissen­schaft und Technik, Wirtschaft, Politik und Kultur. Kerstin Vogt will auch alle Katho­liken erreichen und mitnehmen. „Wir kommen doch alle aus einem Tradi­ti­ons­strang.“ Auch die Öffnung zu den Muslimen möchte sie pflegen, weil sie den Dialog der Religionen für wichtig hält. Sie hat bereits Studi­en­reisen angeboten in arabische Länder.

Ihr Vorgänger Dieter Rammler hatte im Abschieds­in­ter­view mit unserer Zeitung den Finger in die Wunden gelegt und der Kirche ins Gewissen geredet. Er wünscht sich mehr Aufbruch, mehr Mut zur Verän­de­rung. Die Kirche dürfe nicht in Tradi­tionen verharren, mahnt er, sondern müsse sich einlassen auf die neuen Bedürf­nisse der Menschen. Das Chris­tentum sei zumindest in Mittel­eu­ropa in seinen Grund­festen erschüt­tert.

Da ist Kerstin Vogt ganz bei ihm. Auch sie will arbeiten an einem gelin­genden Trans­for­ma­ti­ons­pro­zess; auch sie möchte die Kirche in die Zukunft führen und nicht in der Bedeu­tungs­lo­sig­keit versinken lassen.

Dabei ist schon die Bevöl­ke­rungs­ent­wick­lung ein Hemmschuh. Die Mitglieder sterben weg. Und dann noch die vielen Austritte. Wie kann es weiter­gehen mit der Kirche? „Wie werden wir sein als Insti­tu­tion?“, fragt sie sich. Bislang sei die Kirche noch einer der größten Arbeit­geber. „Was ist, wenn die ganzen sozialen Einrich­tungen wie Kinder­gärten, Hospize und Kranken­häuser nicht mehr existieren? Wie wird sich unsere Gesell­schaft entwi­ckeln?“

„Die wenigsten wünschen sich einen Verlust der Tradi­tionen“

Auch der Mangel an Pfarre­rinnen und Pfarrern gibt ihr zu denken: „Es entscheiden sich nur noch wenige Studie­rende für die Theologie, und so wird künftig in den Gemeinden viel von Ehren­amt­li­chen geleistet werden müssen, weil es gar keine Haupt­amt­li­chen mehr geben wird.“

Aber hoffnungslos ist Kerstin Vogt keines­wegs. „Selbst Menschen, die nicht mehr in der Kirche sind, haben doch einen christ­li­chen Hinter­grund. Das ist unser Herkommen. Aber wie wollen wir künftig damit umgehen? Mit unserer Geschichte? Unserer Vergan­gen­heit? Wie retten wir das für unsere Kinder und Enkel in die Zukunft, wenn es nicht mehr über die Insti­tu­tion läuft? Das ist ein großer Prozess der Verän­de­rung in unserer Gesell­schaft.“ Die werde merken, dass sie all das nicht verloren gehen lassen möchte. „Ich glaube, dass die wenigsten Menschen sich wünschen, dass es einen kompletten Verlust der Tradi­tionen gibt.“

Mancher fühle sich unbehaust in einer Gesell­schaft, die sich rasant verändere. Sie verweist auf techni­sche Umbrüche wie die Digita­li­sie­rung, Künst­liche Intel­li­genz, autonomes Fahren. „Die Entwick­lung schreitet rasch voran – aber der Mensch muss doch mitkommen.“

Die Kirche müsse versuchen, Gebor­gen­heit und Heimat zu geben für Menschen der Gegenwart, die auf der Suche seien nach einer Zukunft. „Auch in Hinblick auf die jüngere Genera­tion, die sich zurecht ums Klima sorgt.“ Auch das Bewahren der Schöpfung sei Aufgabe der Kirche.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 25.11.2021 und erreichbar unter: https://www.braunschweiger-zeitung.de/braunschweig/article233932025/Braunschweiger-Chef-Theologin-Die-Kirche-muss-Heimat-bieten.html (Bezahl-Artikel)

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