Vom Rathaus der Altewiek zum Sterbe­haus Lessings

Altewiekrathaus, Zeichnungen von Anton August Beck, vor 1752. Foto: Stadtarchiv Braunschweig

Verschwun­dene Kostbar­keiten, Teil 7: Das 1395 erstmals genannte Altewie­krat­haus ist durch Zeich­nungen des Kupfer­ste­chers Anton August Beck in seinem Zustand um 1750 bildlich überlie­fert. Es zeigte sich als pitto­resker, weitge­hend aus Fachwerk errich­teter Baukom­plex.

Leise­witz­haus und St. Aegiden. Foto: Elmar Arnhold

Seit den Zerstö­rungen des Zweiten Weltkrieges und dem verkehrs­ge­rechten Ausbau der Innen­stadt Braun­schweigs ist der Charakter des Aegidi­en­markts als histo­ri­scher Markt­platz nicht mehr sichtbar. Noch immer dominiert die gotische Aegidi­en­kirche mit ihrem gewal­tigen Sattel­dach das alte Zentrum der mittel­al­ter­li­chen Teilstadt Altewiek. Der Platz ist jedoch von vier Fahrspuren und einer Straßen­bahn­trasse in zwei ungleiche Bereiche geteilt. Mit der 2016/17 erfolgten Neuge­stal­tung konnte die Situation immerhin gemildert werden – zuvor konnte der einstige Markt von Fußgän­gern nicht einmal überquert werden.

Vor der wuchtig aufra­genden Nordfas­sade von St. Aegidien stand einst das mittel­al­ter­liche Rathaus für das Weichbild Altewiek. Diese Teilstadt umfasste das Quartier um den eigen­stän­digen Kloster­be­zirk von St. Aegidien und das heutige Magni­viertel.  Das 1395 erstmals genannte Altewie­krat­haus ist durch Zeich­nungen des Kupfer­ste­chers Anton August Beck in seinem Zustand um 1750 bildlich überlie­fert. Es zeigte sich als pitto­resker, weitge­hend aus Fachwerk errich­teter Baukom­plex.

1752 abgebro­chen

Er bestand aus einem Erd- und Zwischen­ge­schoss sowie einem höheren und zu den Platz­seiten hin vorkra­gendem oberen Stockwerk. Das Rathaus gliederte sich in einen langge­streckten Hauptbau und einen zurück­sprin­genden, kurzen Gebäu­de­teil an der Ostseite. Zum Aegidi­en­markt hin existierte eine hölzerne Laube mit zwei Zwerch­häu­sern. An der Rückseite zeigten sich Unter- und Zwischen­ge­schoss des Haupt­ge­bäudes in massiver Bauweise. Vermut­lich war hier ein Teil der ursprüng­li­chen Kloster­mauer in den spätmit­tel­al­ter­li­chen Rathausbau einbe­zogen. Ein hölzerner Lauben­gang mit Vordach an der Platz­front diente für den Markt­be­trieb.

Altewiek­keller und Lotte­rie­haus, Kupfer­stich von Anton August Beck, 1771. Foto: Stadt­ar­chiv Braun­schweig

Die Darstel­lungen Becks sind mit Jahres­zahlen versehen: Demnach stammte der Hauptteil vermut­lich von 1464, während der ostsei­tige Fachwerk-Anbau mit den Datie­rungen 1500 und 1524 versehen war. Letzterer diente vermut­lich im Oberge­schoss als Ratsstube. Der Fachwerkbau des Altewie­krat­hauses verdeut­licht die geringere wirtschaft­liche Bedeutung des Weich­bildes gegenüber Altstadt, Hagen und Neustadt im Spätmit­tel­alter. Er wurde 1752 abgebro­chen.

Als Nachfol­gebau dieses mittel­al­ter­li­chen Rathauses entstand 1754 ein statt­li­cher Spätba­rockbau: der Altewiek­keller. Das palais­ar­tige Gebäude ist 1754 nach einem Entwurf von Georg Christoph Sturm als zweige­schos­siger Fachwerkbau errichtet worden. Das elegante 13-achsige Gebäude mit gewalmtem Mansar­den­dach war mit seiner zweifach abgeknickten Haupt­front symme­trisch ausge­bildet und damit geschickt in den Platzraum vor der Aegidi­en­kirche eingefügt. Der fünfach­sige Mittel­teil der Front war durch einen in Stein ausge­führten rundbo­gigen Portal­vorbau mit Freitreppe und Altan (Austritt im Oberge­schoss) betont. Eine weitere Hervor­he­bung der Mittel­achse erfolgte durch ein Zwerch­haus mit Segment­giebel.

Die an den Knick­stellen der Fassade angren­zenden Fenster­achsen waren als flache Vorsprünge (Risalite) mit Neben­ein­gängen und stich­bo­gigen Fenster­öff­nungen gestaltet. Im Übrigen war die Front mit Recht­eck­fens­tern und Gesims­pro­filen schlicht ausge­bildet, wobei das Fachwerk in zeitty­pi­scher Manier über Fachwerk und Gefache hinweg wohl einfarbig gestri­chen war. Mögli­cher­weise existierte eine aufge­malte Archi­tek­tur­glie­de­rung, wie sie der Entwurf Sturms zeigt.

Altewiek­keller, Entwurfs­zeich­nung Georg Christoph Sturm. Foto: Nieders. Landes­ar­chiv Wolfen­büttel

Der Barock­bau­meister Georg Christoph Sturm war Sohn des berühmten Archi­tek­tur­theo­re­ti­kers Leonhard Christoph Sturm und überwie­gend in Braun­schweig tätig. Neben Entwürfen für öffent­liche Gebäude schuf er hier insgesamt 72 Bürger­häuser – von ihnen sind heute lediglich sechs erhalten.

„Neue Schänke“ im Aegidi­en­keller

Der Aegidi­en­keller diente als Gasthof (Neue Schänke) und ging als Sterbeort Gotthold Ephraim Lessings in die Geschichte ein: Der Dichter verschied hier in seiner Braun­schweiger Wohnung am 15. Februar 1781 nach längerer Krankheit.

Aegidi­en­markt mit Altewiek­keller, um 1900. Foto: Stadt­ar­chiv Braun­schweig

Im Osten des Altewiek­kel­lers stand ein weiterer, gleich­zeitig errich­teter und von Sturm konzi­pierter Barock­fach­werkbau: das Lotte­rie­haus. Ein Kupfer­stich Becks aus dem Jahr 1771 zeigt den Menschen­auf­lauf auf dem Aegidi­en­markt während einer Ziehung, die auf einer Bühne zwischen den beiden Gebäuden stattfand. Mit der unter Herzog Karl I. initi­ierten Zahlen­lot­terie sollten die maroden Staats­fi­nanzen aufge­bes­sert werden.

Noch im März 1945 fiel mit der Bebauung des Aegidi­en­markts auch der Aegidi­en­keller dem Luftkrieg zum Opfer. Anfäng­liche Planungen für einen Wieder­aufbau konnten auch aufgrund der weiteren Verkehrs­pla­nungen nicht umgesetzt werden. 1976 errich­tete man vor St. Aegidien einen Neubau für die Kirchen­ge­meinde mit Bauteilen des zuvor an der Wallstraße abgetra­genen Leise­witz­hauses.

Aegidi­en­markt mit Rest des Portal­vor­baus am zerstörten Altewiek­keller. Foto: Archiv Heimat­pfleger

Elmar Arnhold ist Bauhis­to­riker (Gebautes Erbe) und Stadt­teil­hei­mat­pfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröf­fent­licht er regemäßig Beiträge zu histo­ri­schen Bauten in Braun­schweig.

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