Reiche Baukultur in der Reichs­straße

Blick von Norden in die Reichsstraße, 1893. Foto: Braunschweigs Baudenkmäler, 1893

Verschwun­dene Kostbar­keiten, Teil 19: Vor den massiven Zerstö­rungen des Zweiten Weltkrieges konnte dieser Straßenzug mit einem Ensemble hochbe­deu­tender histo­ri­scher Bürger­häuser aufwarten.

Die Reichs­straße gehört zu den eher stilleren Straßen der Innen­stadt Braun­schweigs. Sie liegt abseits des geschäf­tigen Kernbe­reichs im einstigen Weichbild Neustadt und zweigt von der der vielbe­fah­renen Küchen­straße in nördliche Richtung ab. Ihr Verlauf ist seit vielen Jahrhun­derten unver­än­dert. Vor den massiven Zerstö­rungen des Zweiten Weltkrieges konnte dieser Straßenzug mit einem Ensemble hochbe­deu­tender histo­ri­scher Bürger­häuser aufwarten. Davon haben sich lediglich ein verändert wieder­her­ge­stelltes Patri­zi­er­haus sowie eine Kemenate erhalten. Das Renais­sance­portal am Durchgang Opfert­wete zum Andre­as­kirchhof stammt von einem ebenfalls zerstörten Haus an der Wilhelm­straße und wurde 1954 hierher übertragen.

Blick von Norden in die Reichs­straße. Foto: E. Arnhold

Ersterwäh­nung als Rikes­strate

Im Jahr 1320 wurde die Reichs­straße erstmals als „Rikes­strate“ erwähnt und war vermut­lich schon damals Wohnort der führenden Familien im Weichbild Neustadt. Und damit auch der reichen Familien. So könnte der Straßen­name von den einst dort ansäs­sigen Bewohnern herrühren. Zieht man jedoch in Betracht, dass die Reichs­straße in die Kaiser­straße einmündet, ergibt sich eine andere und wohl zielfüh­rende Deutung der Namens­ge­bung: Kaiser und Reich standen vermut­lich für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Denn Braun­schweig liebäu­gelte im späten Mittel­alter mit dem beson­deren Status einer Freien Reichs­stadt – wie Goslar ihn seit dem 13. Jahrhun­dert vorweisen konnte.

Obwohl die Reichs­straße nicht zu den Haupt­ver­kehrs­adern des alten Braun­schweigs gehörte – sie führt nicht unmit­telbar in Richtung eines Stadt­tores oder auf einen Markt­platz – war sie Wohnort der Oberschicht der von Handwer­kern geprägten Neustadt. Die hier ansäs­sigen Kaufleute und Patrizier wohnten in unmit­tel­barer Nähe des adminis­tra­tiven Zentrums der Neustadt: Der Straßenzug mündet noch heute direkt gegenüber dem Neustadt­rat­haus in die Küchen­straße ein. Dessen ursprüng­lich mit gotischen Lauben nach dem Vorbild der des Altstadt­rat­hauses gestal­tete Fassade stand im Blick­punkt der Reichs­straße. Weiterhin hatten die Anlieger der östlichen Straßen­seite auf ihren Grund­stü­cken direkten Zugang zum inner­städ­ti­schen Okerlauf. Dieser wurde im Spätmit­tel­alter auch für den Waren­ver­kehr durch Schiffs­trans­port genutzt – wenn auch in eher geringem Umfang. Der Löwe im Wappen der Neustadt trägt jedoch noch heute einen Anker.

Eckhaus Reichs­straße 1, Südost­an­sicht, um 1900. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Sachliche Nachkriegs­mo­derne

Unter den reprä­sen­ta­tiven Bürger­häu­sern der Reichs­straße befanden sich mehrere große Stein­häuser, deren Kernsub­stanz bisweilen bis in das 13. und 14. Jahrhun­dert zurück­reichte. Besonders markant war das gegenüber zum Neustadt­rat­haus gelegene Eckhaus Reichs­straße 1. Der aus der 1. Hälfte des 16. Jahrhun­derts stammende Dreige­schosser zeigte spätgo­ti­sche Fassaden mit Vorhang­bo­gen­fens­tern und ein Rundbo­gen­portal mit Sitzni­schen. Blickfang war der später hinzu­ge­fügte Holzerker. Das heute an seiner Stelle befind­liche Eckge­bäude wurde 1960 nach Entwurf von Professor Friedrich Wilhelm Kraemer als „Perschmann-Haus“ im Stil der sachli­chen Nachkriegs­mo­derne errichtet.

Von dem pracht­vollen Haus Reichs­straße 3 ist zumindest die steinerne Fassade gerettet worden. Es entstand 1626–1630 für den aus Goslar zugezo­genen Kaufmann und Bürger­meister Georg Achter­mann und seine Frau Lucia von Strombeck. Als Baumeister überlie­fert ist Ulrich Stamm, dessen Namenszug am Erker zu lesen ist. Die überaus reich gestal­tete Fassade zeigt Ornamente im so genannten Knorpel- oder Ohrmu­schel­stil. So werden die am Übergang von der Spätre­nais­sance zum Frühba­rock gängigen Verzie­rungen bezeichnet, die auch an Teigkringel erinnern. Das einstige mit opulenten Schnit­ze­reien versehene Oberge­schoss aus Fachwerk ist nach der Zerstö­rung verein­facht in Massiv­bau­weise wieder­her­ge­stellt worden.

Verlust bei Trümmer­räu­mung

Weitere Stein­bauten aus der Renais­sance­zeit waren die benach­barten Häuser Reichs­straße 31 und 32. Das ältere Haus Nr. 31 stammte von 1560 und zeigte noch Vorhang­bo­gen­fenster ähnlich Reichs­straße 1. Im ursprüng­li­chen Speicher­stock­werk aus Fachwerk wurde dieses Motiv noch einmal aufge­griffen – Nachah­mung der Stein­ar­chi­tektur in Holz. Der reizvolle Hof des Anwesens wurde vom Giebel einer Kemenate beherrscht. Ein durch und durch von den Formen der Renais­sance geprägter Bau war das wertvolle Haus Nr. 32 mit seinen regel­mä­ßigen Fenster­achsen und der von Gesimsen waagrecht geglie­derten Putzfront. Der 1589 errich­tete Steinbau glänzte mit einem großar­tigen Portal, dessen Rundbo­gentor von einer männli­chen sowie weibli­chen Figur flankiert wurde (Hermen­pi­laster). Leider ist es seit der Trümmer­räu­mung verloren.

Reichs­straße 3, Südost­an­sicht, um 1930. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Aus der Fülle der Fachwerk­bauten seien noch zwei heraus­ra­gende Beispiele präsen­tiert. Besonders stattlich war das um 1520 entstan­dene Haus Reichs­straße 7. Es gehörte mit seinen kräftig vorkra­genden Speicher­ge­schossen und reichen Verzie­rungen durch Maßwerk­mo­tive (sie erinnerten an Kirchen­fenster) noch zu den Holzbauten der Spätgotik. Leider hat in Braun­schweig keines der mit solchen Maßwerk­schnit­ze­reien verse­henen Häuser die Zerstö­rungen überstanden.

Als in Fachwerk gezim­mertes Gegen­stück zum Renais­sance­haus Reichs­straße 32 konnte das etwa zeitgleich gegen Ende des 16. Jahrhun­derts errich­tete Eckhaus Reichs­straße 9 gelten. Aufgrund der versetzten Straßen­flucht an der Einmün­dung der Kröppel­straße entfal­tete das Gebäude eine besondere Wirkung. Typisch war die Gestal­tung der Giebel­seite mit einem Halbwalm – was an der wieder­auf­ge­bauten Alten Waage studiert werden kann. Neben den zeitty­pi­schen Schnit­ze­reien fiel die Ausmaue­rung der Fachwerk­fas­saden dieses Hauses mit Backsteinen ins Auge.

Aufwer­tung möglich

Mit dem Wieder­aufbau wurde der Straßenzug zwar beibe­halten, Zeugnisse seiner Geschichte sind jedoch heute rar. Noch immer treten hier auch Baulücken und unvoll­endet geblie­bene Nachkriegs­pro­vi­so­rien in Erschei­nung. Damit bleibt die Möglich­keit, die tradi­ti­ons­reiche Reichs­straße mit ihrer überwie­gend belang­losen Bebauung durch entspre­chend taktvolle Neubauten aufzu­werten.

Elmar Arnhold ist Bauhis­to­riker (Gebautes Erbe) und Stadt­teil­hei­mat­pfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröf­fent­licht er regemäßig Beiträge zu histo­ri­schen Bauten in Braun­schweig.

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