Ein geheim­nis­voller Straßen­name: der Nickeln­kulk

Nickelnkulk mit St. Andreas, 1893. Foto: aus Uhde, Braunschweigs Baudenkmäler

Verschwun­dene Kostbar­keiten, Teil 24: Bis zur Bomben­nacht vom 14. auf den 15. Oktober stand dort ein unver­fälschtes Ensemble von Fachwerk­häu­sern aus dem 15. bis 18. Jahrhun­dert.

Im September 1985 wurde mit Ratsbe­schluss ein uralter Braun­schweiger Straßen­name ausge­löscht: der Nickeln­kulk. Dieser auch aus dem Stadtbild völlig verschwun­dene Straßenzug trug eine der wohl klang- und geheim­nis­vollsten Bezeich­nungen in der histo­ri­schen Topografie der Löwen­stadt. Der Nickeln­kulk befand sich ganz im Norden des heutigen Stadt­kerns und lag am äußersten Rand des ehema­ligen Weich­bildes Neustadt.

Stadtplan Braun­schweigs von 1826, Ausschnitt mit Nickeln­kulk. Foto: Stadt­ar­chiv

Er zweigte von der Kaiser­straße ab, verlief mit zweifa­chem Schwung in Richtung Nordwesten und endete in einer Sackgasse. Diese Gasse, der ursprüng­liche Gerberhof, lag am Zusam­men­fluss von Bossel­graben und inner­städ­ti­schem Okerlauf. Eine kurze Stich­straße, der Geiers­hagen, führte dort über den Okerlauf auf die Wenden­straße im Weichbild Hagen. Auch diese Straße ist in ihrem einstigen Verlauf im Stadtbild nicht mehr vorhanden. Ihre ebenfalls aufge­ho­bene Bezeich­nung lebt jedoch fort mit dem Neuen Geiers­hagen, einem Fußweg zwischen Jugend­her­berge und Inselwall. Seine Namens­ge­bung geht auf eine Anregung des Verfas­sers zurück.

Maleri­sche Blick­per­spek­tiven

Am Nickeln­kulk hatte sich bis zur vollstän­digen Zerstö­rung durch den Bomben­an­griff vom 14./15. Oktober 1944 ein unver­fälschtes Ensemble von Fachwerk­häu­sern aus dem 15. bis 18. Jahrhun­dert erhalten. Der gewundene Straßenzug lebte von maleri­schen Blick­per­spek­tiven. Die Ansicht mit den im Hinter­grund aufra­genden Andre­astürmen gehörte zu den markan­testen Bildern des alten Braun­schweigs. Sie wurde in zahlrei­chen künst­le­ri­schen Darstel­lungen und Fotogra­fien verewigt.

Der Nickeln­kulk wurde 1304 erstmals als „Nicker­kulk“ erwähnt. Er gehörte wohl zum jüngsten Teil der seit Anfang des 13. Jahrhun­derts entstan­denen Neustadt. Über die Deutung des Straßen­na­mens wurde viel gerätselt: Tatsäch­lich leitet er sich vermut­lich von der alten nieder­deut­schen Bezeich­nung „Nicker“ für einen Wasser­geist her. Denn „Kulk“ bedeutet eine mit Wasser gefüllte Vertie­fung. In der Tat lag der Nickeln­kulk sehr tief zwischen zwei Gewäs­ser­armen, daher beher­bergte er vermut­lich eine Ansied­lung von Gerbern, worauf die einstige Sackgasse „Gerberhof“ hinweist.

Niedriger Sozial­status

Eckhaus Kaiser­straße 23 aus dem 15. Jahrhun­dert, um 1940. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

In der städti­schen Sozial­to­po­grafie rangierte der Nickeln­kulk seit Jahrhun­derten am unteren Rand. Die Gerberei gehörte aufgrund der Geruchs­be­läs­ti­gung zu den möglichst in Randlage angesie­delten Gewerben. Im Zuge der Indus­tria­li­sie­rung und des Bevöl­ke­rungs­wachs­tums nach 1850 kam es in den weniger begüns­tigten Quartieren der alten Innen­stadt zu einer starken Überbe­le­gung der Fachwerk­häuser – mit katastro­phalen Wohnbe­din­gungen. In solchen Vierteln gedieh schließ­lich auch die Krimi­na­lität. Daher kreierten die alten Braun­schweiger folgenden Spottvers:

Mauern­straße, Klint und Werder,
davor hüte sich ein jeder.
Nickeln­kulk ist auch nicht besser,
denn da wohnen Messer­ste­cher.
Lange Straße auch nicht minder,
denn da wohnen viele Kinder!

Und Ricarda Huch schrieb 1927:

„Braun­schweig – Um Kinder herum ist Paradies und Märchen, und darum war mir Braun­schweig, wo ich geboren und aufge­wachsen bin, eine Märchen­stadt. […] Häuser und Namen um mich her flossen zu ahnungs­vollen Schau­plätzen zusammen. Der Nickeln­kulk, der so wüst und verloren aussah, daß man sich nicht leicht hinein­wagte, klang wie dunkler Teich, in dem gefähr­li­ches Wasser­volk haust […]“.

Kaum Neu- oder Umbauten

Nickeln­kulk, Mittel­ab­schnitt mit überwie­gend schlichter Fachwerk­be­bauung, um 1940. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Am Nickeln­kulk und in seiner Umgebung dokumen­tierten klein­tei­lige Parzellen- und Hausgrößen im Großen und Ganzen den bereits genannten niedri­geren Status dieser Straße. Und der Anteil der Bauten aus dem 15. und 16. Jahrhun­dert war ungewöhn­lich hoch – man hatte später nicht die Mittel zu tiefgrei­fenden Um- und Neubauten. Doch stoßen wir auch auf Ausnahmen. So präsen­tierte sich das dreige­schos­sige Haus Nickeln­kulk 12 als Bau der Spätre­nais­sance. Der um 1630/40 entstan­dene Fachwerkbau zeigte reiche Schnit­ze­reien mit Ranken­mo­tiven – vergleichbar dem ehema­ligen Rüninger Zollhaus am Altstadt­markt.

Der Südab­schnitt des Straßen­zuges war von spätmit­tel­al­ter­li­chen Häusern, die an ihren Treppen­fries­ver­zie­rungen der Schwell­balken zu erkennen waren, geprägt. Auf das verputzte Eckhaus Kaiser­straße 23 folgten das Doppel­haus Nickeln­kulk 1 und 2 und schräg gegenüber die Häuser­gruppe Nr. 38 bis 40. Letztere bildeten den wirkungs­vollen konvexen Schwung der Straße. An Nr. 39 war ein heute nur noch selten anzutref­fender Trapez­fries angebracht. Häuser aus dem 16. und frühen 17. Jahrhun­dert waren an den in unter­schied­li­chen Formen auftre­tenden Wellen- oder Facett­bän­dern zu erkennen. Der größere Teil der Bebauung war jedoch eher schlicht. Die meisten Häuser trugen ein für das alte Braun­schweig typisches Zwerch­haus. Damit wirkten die durchweg trauf­stän­digen Straßen­zeilen – die Häuser waren mit ihrer Dachseite zur Straße ausge­richtet – bisweilen wie ein Ensemble von Giebel­häu­sern.

Nach dem Total­ver­lust der Bebauung im Zweiten Weltkrieg wurde auch der Straßen­ver­lauf im Laufe der Nachkriegs­jahr­zehnte unkennt­lich. Heute ist das Gelände von den Gebäuden der Lebens­hilfe und Werkstätten der Johannes-Selenka-Schule überbaut.

Elmar Arnhold ist Bauhis­to­riker (Gebautes Erbe) und Stadt­teil­hei­mat­pfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröf­fent­licht er regemäßig Beiträge zu histo­ri­schen Bauten in Braun­schweig.

Fotos Nickeln­kulk

 

 

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