Wehrhaft, trutzig und stark

Gedeckter Wehrgang von der Echternstraße zum Neustadtmühlengraben. Foto: Peter Sierigk
Gedeckter Wehrgang von der Echternstraße zum Neustadtmühlengraben. Foto: Peter Sierigk

Braun­schweigs skurile Ecken und andere Merkwür­dig­keiten: der Wehrgang im Viertel der ‚Unehr­li­chen‘.

Es ist wirklich fast eine Zeitreise, wenn wir den Verkehr­strubel der Gülden­straße hinter uns lassen und in den Prinzenweg abbiegen. Überhaupt schon der Straßen­name! Nein, Prinzen dürften sich hierher wohl kaum verirrt haben, denn auf dieser Seite der 1297 so bezeich­neten aurea platea, der „Goldenen Straße“, der Fernhan­dels­straße zwischen Lüneburg und Frankfurt („Salz gleich Goldwert“) lebten die Ärmsten der Armen unserer Stadt hinter der Stadt­mauer.

Gleich auf der linken Seite erblicken wir den Teil der Stadt­mauer, der am besten erhalten ist und auch noch beein­dru­ckender als das verblie­bene Stück auf dem Schulhof der Realschule John F. Kennedy-Platz. Diese Überbleibsel der Weich­bild­mauern („Weichbild“ = Stadt­teile Hagen, Neustadt, Altstadt, Altewiek, Sack) stammen aus dem 13. Jahrhun­dert und gehören zu den ältesten Befes­ti­gungen unserer Stadt. 1960 hat man das Stück am Prinzenweg restau­riert und eine Inschrift­tafel angebracht, mit der an den letzten Ausbau von 1582 erinnert wird. Dieses Stadt­mau­er­stück steht am „Begine­ken­worth“. Bis zur Zerstö­rung im Zweiten Weltkrieg stand dort das „Döring’sche Beginen­haus“. In solchen Häusern kümmerten sich fromme, nicht durch Gelübde gebundene Frauen um arme und kranke Menschen. Ein Straßen­schild mit dem seltsamen Namen erinnert heute an deren Schaffen.

Dann geht es rechts in die Echtern­straße, eine Bezeich­nung, die vom Wort „Achtern“ herleitet und in diesem Falle die Gegend hinter der Stadt­mauer meint. 1304 finden wir diese Straße als platea finalis verzeichnet, also als letzte Straße vor der Stadt­mauer, dann ab 1310 echter­en­strate. Es handelte sich früher bei dieser Straße um das Viertel der „unehr­li­chen Berufe“, mit denen niemand gern in Berührung kam. Zu den „Unehr­li­chen“ gehörte der Bader mit seinen Schröpf­köpfen und dem Zahnbre­chen, der Toten­gräber der Altstadt, Abdecker, Kessel­fli­cker, ja selbst der Türmer und der Büttel und selbst die Müller. Ganz besonders natürlich die Prosti­tu­ierten, die in dieser Straße in drei Häusern unter­ge­bracht wurden. Eines davon, das „Rote Kloster“ genannt am Südende der Straße gelegen, war berühmt-berüch­tigt. Aller­dings gab es auch jemanden, der die Aufsicht über die zahlrei­chen „Unehr­li­chen“ hatte – das war der Henker der Altstadt, der auch in dieser Straße wohnte.

Trotzdem gab es auch durchaus ehrbare Anwohner, so schräg gegenüber der St. Michaelis-Kirche, hinter dem Prediger-Witwen­haus, die Stobwasser-Fabrik, in der der Fabrikant ab 1771 die herrlich bemalten Schach­teln, Tabatieren, Tabletts usw. herstellen ließ. Dort arbei­teten aufgrund der starken Nachfrage bis zu 100 Menschen. Das Haus hat den Krieg unbeschadet überstanden, zugleich bildet es heute den Abschluss der histo­ri­schen Bebauung. Wir gehen auf den Hof des Hauses ein paar Meter und stehen vor einem seltsamen, niedrigen Gebäude – dem Rest eines mittel­al­ter­li­chen Stadt­turmes. Zwar wurde hier ein Gittertor angebracht, aber es steht für Besucher offen. Beim Verkauf der benach­barten Grund­stücke wurde dieser gedeckte Wehrgang mit verkauft. Wenn wir ihn betreten, kommen wir direkt hinunter zum alten Neustadt­müh­len­graben, dem ersten Stadt­mau­er­graben.

Die Stadt Braun­schweig wurde bereits im 12. Jahrhun­dert mit einer Stadt­mauer versehen. Das heißt, die Weich­bilde wurden nach und nach mit dieser Mauer umgeben, auf Veran­las­sung Heinrich des Löwen zunächst der „Hagen“ (= umhegter Bezirk), später, unter seinem Sohn, dem Welfen­kaiser Otto IV., auch die anderen Weich­bilde. Dabei handelte es sich um eine Buntsand­stein­mauer, vor der ein ziemlich schmaler Graben verlief – den man teilweise noch vom Giesel­er­wall bis zum Gaußberg entdecken kann. Ab dem 18. Jahrhun­dert begann man damit, den östlichen, inneren Umflut­graben weitge­hend zuzuschütten.

Seit dem 14. Jahrhun­dert begann man, einen 6 Meter hohen Erdwall aufzu­werfen und davor einen 1450 fertig­ge­stellten Umflut­graben anzulegen. Auf diesem mit dem Wasser der Oker gefüllten Graben lassen sich heute noch wunder­bare Boots­fahrten unter­nehmen, wenn es auch durch die Wehre nicht möglich ist, einmal um die gesamte Innen­stadt zu fahren.

Neun Stadttore und drei Ein- bzw. Austritt­stellen der Oker unter­bra­chen diese Befes­ti­gung, die zum Ende des 18. Jahrhun­derts auf Anweisung Herzog Carl Wilhelm Ferdi­nands geschleift wurde. Peter Josef Krahe bekam 1802 den Auftrag, Parkan­lagen und Prome­naden zu schaffen.

König Philipp von Schwaben belagerte im Jahre 1200 die Stadt. Damals erschien der Schutz­hei­lige St. Auctor und rettete die Stadt. 1492/93 wurde Braun­schweig durch Herzog Heinrich d. Ä. belagert und damit eine Reihe von Erobe­rungs­ver­su­chen der Herzöge von Braun­schweig-Wolfen­büttel einge­leitet, die ihre Residenz im 13. Jahrhun­dert nach Wolfen­büttel verlegt hatten. Die Befes­ti­gungs­an­lage der Stadt war jedoch zu stark für die Angreifer. An mehreren, stern­förmig angelegten Bastionen standen später Kanonen. Erst 1671 gelang es drei welfi­schen Fürsten die aufsäs­sige Stadt einzu­nehmen und damit das Ende ihrer Unabhän­gig­keit zu erreichen.

Jahrhun­der­te­lange Ausein­an­der­set­zungen zwischen den Herzögen und den reichen Patri­ziern fanden dadurch ihr Ende. Die Echtern­straße jedoch, jenes „Viertel der Unehr­li­chen“, ist heute ein städti­sches Kleinod. Die Tradi­ti­ons­insel um die 1157 geweihte Kirche St. Michaelis wurde in den 1990er Jahren saniert, 2002/03 brachten archäo­lo­gi­sche Grabungen inter­es­sante Funde ans Tages­licht, die teilweise aus dem 13. Jahrhun­dert stammen.

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