Fachwerk­pa­rade an der Langen Straße

Lange Straße, Ansicht von Westen mit Haus Nr. 60 (links), im Hintergrund das Neustadtrathaus, 1927. Foto: aus: P. J. Meier, Braunschweig, 1929)

Verschwun­dene Kostbar­keiten, Teil 17: Ersterwäh­nung im Jahr 1320 als „longa platea“.

Die Lange Straße zieht sich heute als breiter Straßenzug durch die nördliche Braun­schweiger Innen­stadt. Sie ist Bestand­teil des in den 1960er und 70er Jahren im Rahmen des verkehrs­ge­rechten Stadt­um­baus geschaf­fenen Kerntan­gen­ten­vier­ecks und verbindet den Radeklint über Küchen­straße und Hagen­brücke mit dem Hagen­markt. Die vierspu­rige Straße mit Straßen­bahn­linie bildet eine starke Zäsur und trennt den Nordteil des Stadt­zen­trums und damit das histo­ri­sche Weichbild Neustadt von der geschäf­tigen Stadt­mitte.

Gebäude aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg sind hier nicht mehr zu finden, lediglich der spitze Turm der Petri­kirche wirkt über die Nachkriegs­bauten hinweg in den Westteil der Langen Straße. Vor der berüch­tigten Bomben­nacht vom 14./15. Oktober 1944 zeigte sich der enge Straßen­zugzug mit dichter Bebauung – und wurde so das Opfer eines alles verzeh­renden Feuer­sturms.

Reich beschnitzte Fassaden

Blick in die Lange Straße von Westen, 2023. Foto: E. Arnhold

Die einst schmale und geradezu schlucht­artig wirkende Straße machte ihrem Namen alle Ehren. Sie wurde 1320 erstmals als „longa platea“ erwähnt. Ihr Verlauf folgte der einstigen Befes­ti­gung an der Nordseite des Weich­bildes Altstadt, wobei sie selbst zur Neustadt gehörte. Nach Gründung dieser Teilstadt im frühen 13. Jahrhun­dert verschwand die dortige Befes­ti­gung, welche durch archäo­lo­gi­sche Ausgra­bungen vor dem Bau des Presse­hauses nachge­wiesen werden konnte. Fast sämtliche Parzellen mit ihren Hausnum­mern von 1 bis 72 waren bis 1944 mit Fachwerk­bauten besetzt. Dort reichte die Bandbreite von der Mitte des 15. Jahrhun­derts bis in die Jahre um 1800. Ein Großteil der Häuser stammte aus dem 16. Jahrhun­dert und gehörte somit zu den Bürger­häu­sern aus der Renais­sance­zeit. Ganze Ensembles von Bauten mit reich beschnitzten Fassaden reihten sich anein­ander.

Die bis in die Zeit des Dreißig­jäh­rigen Krieges entstan­denen Fachwerk­häuser entspra­chen dem Bautyp des städti­schen Dielen­hauses. Die Häuser waren trauf­ständig mit der Dachseite zur Straße ausge­richtet und schlossen mit steilen Sattel­dä­chern ab. Das Erdge­schoss beinhal­tete die Diele, von der seitlich ein Wohnbe­reich mit Stube und Kammer abgeteilt war. Hohe Dielen konnten ein Zwischen­ge­schoss aufnehmen, das über eine Treppe mit Galerie erschlossen war. Hinter der Stube befand sich die Küche mit offener Feuer­stelle. Im 18. und 19. Jahrhun­dert wurden die hohen Dielen zumeist vollständig mit Zwischen­ge­schossen verbaut – was dort häufig zu unzurei­chenden Stock­werks­höhen führte. In den auskra­genden Oberge­schossen befanden sich ursprüng­lich fast ausschließ­lich große Speicher­räume, die bei manchen Häusern durch hölzerne Lüftungs­gitter (an Stelle späterer Fenster) noch erkennbar waren. Die Waren wurden über Ladeluken und in den Dachräumen einge­bauten Winde­vor­rich­tungen einge­la­gert. Fast sämtliche Speicher wurden seit dem 18. oder 19. Jahrhun­dert zu Wohnzwe­cken ausgebaut.

Lange Straße von Osten mit dem Eckhaus Alte Waage 1 (rechts), um 1940. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Norddeut­sches Renais­sance­fach­werk

Die Häuser der Langen Straße vertraten den Dielen­haustyp in sämtli­chen Varia­tionen. Konstruk­tion und Fassa­den­schmuck verrieten das Baualter: Häuser mit sehr weit auskra­genden Oberstö­cken und noch wenig ausge­prägten Schnit­ze­reien gehörten in die älteste Schicht von Bauten aus der Zeit vor oder um 1450. Es folgten die spätgo­ti­schen Beispiele mit ihren durch Treppen­friese verzierten Schwell­balken. Einige der kostbarsten Hausfas­saden waren mit Ranken­werk und – an einem Beispiel (Lange Straße 67) – maßwerk­ähn­li­chen Motiven nach dem Vorbild gotischer Kirchen­fenster dekoriert. In den 1530er und 40er Jahren wurde das Leitmotiv des norddeut­schen Renais­sance­fach­werks aktuell: die Fächer­ro­setten. Schließ­lich folgten die Verzie­rungen mit Wellen- oder Facett­bän­dern und Dekora­tionen nach Vorbil­dern des zeitge­nös­si­schen Steinbaus. In der Barock­zeit wurden die Fassaden schlichter und ohne Vorkra­gungen verzim­mert, sie sollten nun ganz deutlich die Stein­ar­chi­tektur des 18. Jahrhun­derts nachahmen.

Greifen wir einige verschwun­dene Perlen der Braun­schweiger Fachwerk­kunst heraus. Zu den ältesten Bürger­häu­sern zählte das Eckhaus Alten Waage 1 / Lange Straße. Es wies ein massives Erd- und Zwischen­ge­schoss auf, darüber kragte der spätgo­ti­sche Speicher­stock mit Treppen­friesen aus der Zeit um 1470/80 vor.

Das Haus Lange Straße 9 gehörte zu den großar­tigsten Holzbauten der Löwen­stadt. Das 1536 errich­tete Dielen­haus besaß zwei noch komplett intakte Speicher­stöcke mit Lüftungs­git­tern und Ladeluken. Das Dielentor und die Speicher waren überreich mit Schnit­ze­reien der Frühre­nais­sance verziert. Erstmals traten hier in Braun­schweig Fächer­ro­setten in Erschei­nung. Sie waren mit Masken und weiterem Dekor angerei­chert. Die Schnit­ze­reien atmeten den Duktus der noch reicheren Verzie­rungen am Hunebors­tel­schen Haus am Burgplatz (Handwerks­kammer). Neben dem Dielentor war die Fassade in der Barock­zeit massiv erneuert worden.

Lange Straße 9, Nordfas­sade, um 1900. Foto: Stadt­ar­chiv

Mit Fabel­wesen verziert

Das ebenso statt­liche Haus Lange Straße 45 stammte vermut­lich ebenfalls aus den 1530er Jahren. Die Schwell­balken der beiden Speicher­stöcke waren mit einem noch spätgo­ti­schen Laubge­win­de­stab und mit Fabel­wesen sowie Ranken­werk verziert. Das Dielentor hingegen zeigte eine quali­täts­volle barocke Portal­ar­chi­tektur aus Holz.

Der Langen Straße 9 gegenüber stand eine Reihe von Häusern aus den Jahren um 1540/50: Nr. 66 bis 69. Bei dem großen Haus Nr. 66 waren die Fächer­ro­setten in Minia­tur­format auf dem Schwell­balken des Speicher­ge­schosses angebracht. Sehr ähnlich präsen­tierte sich das markante Haus Lange Straße 60. Reicher verziert war das Fachwerk von Nr. 67: Hier erstreckten sich Maßwerk­mo­tive über Schwelle und Fußdrei­ecke der Brüstungen des Speichers – reich garniert mit Ranken­werk. Haus Lange Straße 68 zeigte wiederum Fächer­ro­setten, hier besonders großfor­matig und opulent.

Dieser Überblick zeigt nur eine kleine Auswahl der einstigen Fachwerk­pracht dieses Straßen­zuges. Er verdeut­licht: Die histo­ri­schen Bürger­häuser gehorchten einem Grund­prinzip, stellten sich jedoch immer als Indivi­duen dar. Vielfalt in der Einheit und Einheit in der Vielfalt …

Elmar Arnhold ist Bauhis­to­riker (Gebautes Erbe) und Stadt­teil­hei­mat­pfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröf­fent­licht er regemäßig Beiträge zu histo­ri­schen Bauten in Braun­schweig.

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