Gegen­ge­wicht zur Fürsten­macht

Wahlplakat der Niedersächsischen Partei, Landtagswahl Dezember 1924. Foto Stadtarchiv Braunschweig
Wahlplakat der Niedersächsischen Partei, Landtagswahl Dezember 1924. Foto Stadtarchiv Braunschweig

Aus dem Stadt­ar­chiv, Folge 1: Stadträte und Stände­ver­samm­lungen waren Vorläufer unserer parla­men­ta­ri­schen Demokratie im Braun­schweiger Land.

Mit dieser Folge starten wir eine neue Reihe in Koope­ra­tion mit dem Stadt­ar­chiv Braun­schweig. Jeden Monat wird ein spannender Beitrag aus der Geschichte Braun­schweigs veröf­fent­licht. Mit unserer Reihe wollen wir unsere Leserinnen und Leser auch auf das Jubiläum zum 1000-jährigen Bestehen Braun­schweigs im Jahr 2031 vorbe­reiten. Anlass dafür ist die Ersterwäh­nung der Stadt in der Weihe­ur­kunde der Magni­kirche von 1031.

Die Tradition von Stadt­räten und Stände­ver­samm­lungen als Vorläufer unserer heutigen parla­men­ta­ri­schen Demokratie reicht bis ins Mittel­alter und die Frühe Neuzeit zurück. Auch im alten Land Braun­schweig waren sie als Gegen­ge­wicht bezie­hungs­weise Regulativ zur Fürsten­macht ein wirkmäch­tiger histo­ri­scher Faktor. Die Unter­schiede zu modernen Parla­menten sind dabei jedoch erheblich: Es handelte sich um ausschließ­lich männliche Vertreter der gesell­schaft­li­chen Oberschicht, die weder die gesamte Bevöl­ke­rung reprä­sen­tierten noch von ihr gewählt werden durften.

Auf Landes­ebene bildeten die Vertreter der landtags­fä­higen Klöster und Stifte (Prälaten), der Ritter­schaft und der Städte die Stände­ver­samm­lung. Ihr oblag vor allem die Bewil­li­gung der im Land zu erhebenden Steuern. Seit 1690 verfügten sie über ein eigenes Haus am Kohlmarkt; 1798/99 bezogen sie dann das am Marti­ni­kirchhof gelegene Landschaft­liche Haus (heute Amtsge­richt).

Neue Landschafts­ord­nung 1832

Nach dem Interim unter franzö­si­scher Besetzung konsti­tu­ierten sich die Landstände neu. 1820 erhielt das Herzogtum Braun­schweig mit der „Erneu­erten Landschafts­ord­nung” erstmals eine geschrie­bene Verfas­sung, die nach der Revolu­tion von 1830 durch die „Neue Landschafts­ord­nung“ (1832) ersetzt wurde, die bis 1918 in Kraft blieb.

Ehemaliges Landschaftliches Haus (heute Amtsgericht Braunschweig). Foto: Team Der Löwe
Ehema­liges Landschaft­li­ches Haus (heute Amtsge­richt Braun­schweig). Foto: Team Der Löwe

Seit dem ausge­henden 19. Jahrhun­dert wurde immer lautere Kritik am Braun­schwei­gi­schen Landtag vernehmbar, die sich vor allem am bestehenden Wahlrecht entzün­dete, das nach Berufs­ständen unter­schied und das Steuer­ein­kommen gewich­tete und so den Vertre­tern des nicht­be­gü­terten Teils der Bevöl­ke­rung den Weg in den Landtag versperrte. Trotz aller Bemühungen kam es bis zur Novem­ber­re­vo­lu­tion 1918 nur zu gering­fü­gigen Reformen des Wahlrechts.

Kurze Zeit der Demokratie

Nur wenige Wochen nach der Abdankung von Herzog Ernst August am 8. November 1918 fanden im Braun­schwei­gi­schen die ersten freien, gleichen und geheimen Wahlen zu den Kommu­nal­ver­tre­tungen (15. Dezember) und zum Landtag (22. Dezember) statt. Damals wurden auch erstmals Frauen in die politi­schen Vertre­tungen gewählt. Die kurze Phase des leben­digen Parla­men­ta­rismus der Weimarer Republik endet mit dem Beginn der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Diktatur im Januar 1933.

Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm 1946 auch ein (ernannter) Braun­schwei­gi­scher Landtag für kurze Zeit seine Arbeit auf. Seine letzte Sitzung fand am 21. November 1946 statt, drei Wochen nachdem das Land Braun­schweig im neu gegrün­deten Bundes­land Nieder­sachsen aufge­gangen war.

Die Geschichte der Stadträte als von der Bürger­ge­meinde beauf­tragtes Entschei­dungs­gre­mium geht bis in die Entste­hungs­zeit der Städte im späten Mittel­alter zurück. Die Gemeinde wurde von den männli­chen Inhabern des Bürger­rechts gebildet, die nur etwa ein Fünftel der städti­scher Gesamt­be­völ­ke­rung ausmachten. Über die Führung des Stadt­re­gi­ments brachen regel­mäßig Konflikte aus, die insbe­son­dere in Braun­schweig gut dokumen­tiert sind und im Ergebnis zu einer immer breiteren Betei­li­gung der Bürger­schaft an der politi­schen Macht führten, Zugleich kann die Stadt Braun­schweig vor allem im 16. und 17. Jahrhun­dert als eine Art „Stadt­re­pu­blik“ angesehen werden, die durch eine große innen- und außen­po­li­ti­sche Handlungs­frei­heit charak­te­ri­siert war.

In den klimatisierten Magazinen des Stadtarchivs lagert das historische Gedächtnis Braunschweigs. Foto: Stadt Braunschweig, Daniela Nielsen.
In den klima­ti­sierten Magazinen des Stadt­ar­chivs lagert das histo­ri­sche Gedächtnis Braun­schweigs. Foto: Stadt Braun­schweig, Daniela Nielsen.

Welfen unter­warfen die Stadt

Die Phase städti­scher Autonomie endete abrupt 1671, als es den vereint agierenden Linien der Welfen gelang, die Stadt ihrer Herrschaft zu unter­werfen. Eine bis ins Mittel­alter zurück­rei­chende Tradition haben im Wirkungs­kreis der Braun­schwei­gi­schen Landschaft auch die Stadträte von Helmstedt, Königs­lutter, Schöningen oder Schöp­pen­stedt aufzu­weisen. Mit der Erneue­rung der kommu­nalen Selbst­ver­wal­tung traten mit der Mitte des 19. Jahrhun­derts auch wieder Stadträte als Bürger­ver­tre­tungen mit einer Reihe von kommu­nalen Entschei­dungs­be­fug­nissen in Erschei­nung.

Entspre­chend der histo­ri­schen Gliede­rung der Stadt Braun­schweig in fünf Teilstädte (Weich­bilde) gab es in Braun­schweig fünf Weich­bild­räte und einen Rat für gesamt­städ­ti­sche Belange, den sogenannten Gemeinen Rat. Während in mittel­al­ter­li­cher Zeit vor allem die Ratsbe­schlüsse des mittel­al­ter­li­chen Rates schrift­li­chen Nieder­schlag in Urkunden und Amtsbü­chern (StA BS A I 1 und B 1) fanden, sind seit dem 16. Jahrhun­dert auch einige Proto­koll­bü­cher dieser Kolle­gi­al­or­gane erhalten (StA IS BI4). Nach dem Verlust der Unabhän­gig­keit der Stadt 1671 sank der Braun­schweiger Rat auf das Niveau einer unteren Gerichts­be­hörde hinab.

Eine Renais­sance erlebte die Kommu­nal­ver­tre­tung erst mit der Wieder­be­le­bung der kommu­nalen Selbst­ver­wal­tung im Zuge der bürger­li­chen Verfas­sungs­re­formen. Die zugehö­rige archi­vi­sche Überlie­fe­rung befindet sich vor allem in den Proto­kollen der Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung bis 1929 (StA BS D II 2/2a, die Proto­kolle bis 1924 sind online über die Seiten der Univer­si­täts­bi­blio­thek Braun­schweig verfügbar) sowie in den Akten des Rates der Stadt Braun­schweig ab 1930 (StA BS E 309/310).

Dr. Henning Stein­führer ist Leiter des Stadt­ar­chivs Braun­schweig. Der Beitrag erschien zuerst im Buch „Von Asse bis Zucker. Funda­mente Braun­schwei­gi­scher Regio­nal­ge­schichte.

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