Nazischlächter tarnte sich als Volks­schul­lehrer

Siegerehrung durch Lehrer Artur alias Walter Wilke auf dem Sportplatz Stederdorf nach den Bundesjugendspielen 1957. Foto: privat
Siegerehrung durch Lehrer Artur alias Walter Wilke auf dem Sportplatz Stederdorf nach den Bundesjugendspielen 1957. Foto: privat

Autor Jürgen Gückel liest im Rahmen der Ausstel­lung „Das Braun­schwei­gi­sche Land im Natio­nal­so­zia­lismus“ in Lehre aus seinem dokumen­ta­ri­schen Buch „Klassen­foto mit Massen­mörder –Das Doppel­leben des Artur Wilke“.

Die Geschichte, aus der Journa­list und Autor Jürgen Gückel am 20. Januar um 18 Uhr im Rathaus Lehre lesen wird, klingt so unglaub­lich, dass mancher Zuhörer versucht sein wird, an einen Roman zu glauben. Das kann doch nicht wahr sein, was da zu hören ist! Aber doch, es stimmt. Gückels Buch „Klassen­foto mit Massen­mörder – Das Doppel­leben des Artur Wilke“ ist eine Dokumen­ta­tion über einen Verblen­deten des Natio­nal­so­zia­lismus. Und nicht nur das, denn Gückel beschreibt auch das Schweigen und Nicht­wis­sen­wollen eines ganzen Dorfes in der Zeit nach dem Natio­nal­so­zia­lismus, den zwiespäl­tigen Umgang von Kirche und Politik mit verur­teilten NS-Kriegs­ver­bre­chern sowie die Zweifel­haf­tig­keit eigener und fremder Erinne­rungen.

Gückel stellt sein Buch im Rahmen der Ausstel­lung „Das Braun­schwei­gi­sche Land im Natio­nal­so­zia­lismus“ vor. Die Präsen­ta­tion der Arbeits­gruppe Heimat­pfleger der Braun­schwei­gi­schen Landschaft setzt sich darin kritisch mit den lokal- und regio­nal­ge­schicht­li­chen Gescheh­nissen dieser Zeit ausein­ander. Gückels Dokumen­ta­tion mit dem Schau­platz Steder­dorf passt dazu in beson­derer Weise. Der Eintritt zu Ausstel­lung mit ihren 32 Infor­ma­ti­ons­ta­feln (noch bis zum 4 Februar) und Lesung ist frei.

Autor Jürgen Gückel. Foto: Verlag
Autor Jürgen Gückel. Foto: Verlag

Seit seiner Schulzeit hat Gückel der Verbleib des Lehrers Wilke inter­es­siert. Länger als drei Jahre recher­chierte er in Archiven, Prozess- und Perso­nal­akten, führte er Gespräche mit Mitschü­lern, Zeitzeugen und Histo­ri­kern und studierte ungezählte Schriften über die Zeit des Natio­nal­so­zia­lismus, ehe er ein umfas­sendes Bild des unglaub­li­chen Lebens jenes Mannes am Rande seines Einschu­lungs­fotos dokumen­tieren konnte, das in seinem Dorf bis dahin ungekannt war. „Er war kein Lehrer, er war ein Massen­mörder, ein Agent, Betrüger und Bigamist. Und man hat ihn fast eine ganze Genera­tion Schüler unter­richten lassen, obwohl nicht wenige wussten oder ahnten, dass er nicht der war, für den er sich ausgab“, schreibt Gückel.

Gückel förderte die verwir­rende Famili­en­ge­schichte eines fanati­schen Natio­nal­so­zia­listen und SS-Führers, dessen erste Ehe von Heinrich Himmler persön­lich genehmigt wurde, zutage. Der Lehrer Walter Wilke, der in Wahrheit Artur hieß und ein studierter Theologe und Massen­mörder war, zeugte binnen weniger Kriegs­jahre vier Kinder. 1945 schlüpfte er in die Rolle seines gefal­lenen Bruders. Zur Tarnung seiner wahren Identität heiratete er erneut, um schließ­lich als vermeint­li­cher Onkel Vormund seiner eigenen Kinder werden zu können. Mit den Lehrer­ab­schlüssen seines Bruders unter­rich­tete er 13 Jahre lang an der Volks­schule Steder­dorf unter­rich­tete.

Gückel fragte sich, warum sein erster Lehrer an der Volks­schule Steder­dorf so plötzlich weg war – aus dem Unter­richt abgeholt, offenbar von der Polizei, für ein Jahrzehnt verschwunden und vom ganzen Dorf verschwiegen. Der Verbleib war kein Thema. Wer der falsche Lehrer Wilke in Wirklich­keit war, zeigte einer der spekta­ku­lärsten NS-Prozesse 1962 in Koblenz: Als Haupt­sturm­führer und Mitglied der SS-Einsatz­gruppen hat Artur Wilke im Tötungs­lager Malyj Trostenez bei Minsk mindes­tens 6600 Menschen eigen­händig ermordet bezie­hungs­weise ihre Erschie­ßung oder Tötung in einem Gaswagen angeordnet. Er wurde unter anderem beschul­digt, eine Kirche mit 257 Frauen, Männern und Kindern darin in Brand gesetzt zu haben. Aber auch Infor­ma­tionen über den Prozess drangen nicht bis nach Steder­dorf vor.

Lehrerkollegium der Volksschule Stederdorf 1959. Rechts im Bild Artur Wilke. Foto: privat
Lehrer­kol­le­gium der Volks­schule Steder­dorf 1959. Rechts im Bild Artur Wilke. Foto: privat

Zu zehn Jahren Zuchthaus wurde der Massen­mörder verur­teilt. In seiner Zelle wurde er zu einem der wichtigsten Zeugen für das Wirken der evange­li­schen Gefäng­nis­seel­sorge an den NS-Tätern. „War schon sein Straf­pro­zess zu einem Lehrbei­spiel für die kollek­tive Verdrän­gung deutscher Schuld am Grauen der Hitler-Zeit geworden, so entwi­ckelte sich Artur Wilkes Schrift­ver­kehr mit Seelsor­gern wie Professor Hermann Schlin­gen­siepen und Kirchen­prä­si­dent Hans Stempel zu einem für die theolo­gi­sche Wissen­schaft frucht­baren Beispiel der christ­li­chen Schuld­ver­ge­bung ohne Anerken­nung eigenen Versagens durch die Täter“, so Gückel.

Sein Fazit: Zu einem Einge­ständnis eigener Schuld konnte sich der tausend­fache Mörder Artur Wilke nie durch­ringen. An keiner Stelle hat er je Mitleid geäußert mit den Kindern, Greisen, Frauen und Männern, die er tötete oder töten ließ. Er sah sich vielmehr bis zum Lebens­ende als verführtes, aber eides­treues Werkzeug jener NS-Ideologie, die ihn zu seinen Taten befohlen hatte. Am Ende fühlte er sich als einer, der stell­ver­tre­tend für die Schuld eines ganzen Volkes im Gefängnis leiden musste, als eine Art Märtyrer.

Fakten:

„Klassen­foto mit Massen­mörder“
295 Seiten, gebunden
ISBN: 978–3‑525–31114‑1
Vanden­hoeck & Ruprecht
25 Euro

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