Erinne­rungs­kultur für das, was schief­ge­laufen ist

Litera­tur­reihe „Erlesenes“ startete mit Michael Göring und seinem Roman „Vor der Wand“.

Schwer verdau­liche Kost setzt Autor Michael Göring seinen Zuhörern vor, wenn er die Schlüs­sel­szene aus seinem neuen Roman vorträgt. Denn das in „Vor der Wand“ geschil­derte und so schreck­liche NS-Verbre­chen ist tatsäch­lich geschehen. Und er schildert sehr eindring­lich, wie sich das Massaker im toska­ni­schen St. Anna zugetragen haben könnte.

Michael Göring, Vorstands­vor­sit­zender der ZEIT-Stiftung, stellt in seinem Roman eine zerrüt­tete Vater-Sohn-Beziehung in Zeiten des Wirtschafts­wun­ders und das späte Schuld­ein­ge­ständnis des Vaters auf dem Sterbe­bett der histo­ri­schen Wahrheit gegenüber.

Göring las zum Auftakt zur Litera­tur­reihe „Erlesenes“ der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz. Die Reihe wird im Haus der Braun­schwei­gi­schen Stiftungen fortge­setzt. Andreas Döring trägt am 15. Februar u.a. aus Werken von Volker Darnedde, Stefano Benni und Peter Bichsel vor. Am 8. März trägt Robert von Lucius aus seinem Buch „Welfen­land mit Schmet­ter­lingen“ vor. Beginn ist jeweils um 19.30 Uhr.

Am Rande der Lesung stand Michael Göring für ein Gespräch zur Verfügung.

Herr Göring, Ihr erstes Buch, „Der Seiltänzer“, setzte sich mit einem branda­ak­tu­ellem Thema, nämlich dem Missbrauchs-Skandal in der katho­li­schen Kirche, ausein­ander. Bei „Vor der Wand“ geht es um ein NS-Verbre­chen aus dem Jahr 1944. Haben Sie das Thema gewählt, weil Sie Sorge haben, dass die Gräuel­taten in Verges­sen­heit geraten könnten?

Ich glaube, es ist doch auch wieder ein aktuelles Thema. Auch wenn die Gescheh­nisse, die in einem Teil dieses Buches berichtet werden, auf das Jahr 1944 zurück­gehen. Denn mir geht es eigent­lich darum, dass wir tatsäch­lich eine Erinne­rungs­kultur in unserem Lande aufbauen oder bewahren, die nicht nur das besonders Geglückte an diesem Deutsch­land immer wieder erinnert sondern auch sich dessen noch einmal versi­chert, was schief gelaufen ist. Und in der Zeit der NS-Diktatur ist eine ganze Menge schief gelaufen. Das gehört auch zur deutschen Geschichte. Und ich finde es immer wieder wichtig, dass die junge Genera­tion auch noch einmal dahin­ge­führt wird.

Sie haben das reale Ereignis von St. Anna di Stazzema in eine fiktive Vater-Sohn-Geschichte einge­bunden. Warum ist „Vor der Wand“ ein Roman und keine Dokumen­ta­tion geworden?

Ich habe mir überlegt, dass histo­ri­sche Ereignis in einen Roman zu packen, weil ich weiß, dass die meisten Menschen sich durch eine emotio­nale Geschichte, einen Roman, immer noch als erstes angespro­chen fühlen. Und wenn sie dann merken, dass ein Teil dieses Romans eben Histo­rical-Fiction ist, also tatsäch­lich recher­chiert ist, echte Geschichte ist, wahre Geschichte, dann glaube ich, greift es denje­nigen der das liest noch einmal ganz besonders an und der Inhalt bleibt auch in Erinne­rung. Ich denke an die Genera­tion meiner Kinder, die natürlich in der Schule über den Natio­nal­so­zia­lismus viel gelernt und gehört haben, die aber nicht mehr die Bücher lesen, die in den 70er Jahren darüber geschrieben wurden. Diese Genera­tion braucht neue Bücher. Und ich denke, dieses Buch erreicht diese jüngere Genera­tion, versucht es jeden­falls sie zu erreichen.

Sie haben Ihr erstes Buch erst im Jahr 2011 veröf­fent­licht. Sie sind sehr spät zum Schreiben gekommen. Woran lag es?

Ich muss sagen, an dem Buch, das jetzt im Herbst letzten Jahres rausge­kommen ist, saß ich schon bevor ich mit dem „Seiltänzer“ anfing. Das hängt damit zusammen, dass wir 2006 als ZEIT-Stiftung gebeten wurden, uns an der Finan­zie­rung der Frieden­sorgel in St. Anna di Stazzema betei­ligen. Eigent­lich habe ich erst bei einem Besuch dort so richtig erfahren, wie blutig, wie schreck­lich der Rückzug der Deutschen aus der Toskana 1944 war. Und das hat mich sehr erschüt­tert, was da in St. Anna di Stazzema passiert war. Seither wusste ich, daran muss ich arbeiten. Dann kam diese unsäg­liche Geschichte in der katho­li­schen Kirche dazwi­schen. Die Missbrauchs­fälle haben mich auch wieder sehr bewegt und auch darüber wollte ich ebenfalls schreiben. „Der Seiltänzer“ wurde dann schneller fertig.

Mit dem Schreiben als solches habe ich aber schon sehr viel früher angefangen. Bereits als ich in Amerika studierte, dort Fiction-Writing-Seminare besuchte. Aber als ich nach Deutsch­land zurückkam, musste die Promotion abgeschlossen werden, kamen unsere beiden Kinder auf die Welt und ich musste sehen, dass für die Familie alles funktio­nierte. Für solche Hobbies wie Schreiben blieb erst mal keine Zeit. Und dann habe ich mit knapp 50 wieder angefangen zu schreiben. Und das ist jetzt ein sehr, sehr schöner Ausgleich zu der doch harten, fordernden Stiftungs­ar­beit.

Sie haben ihre Tätigkeit bei der ZEIT-Stiftung erwähnt. Sie sind ja auch noch Honorar­pro­fessor, reisen sehr viel. Wann Schreiben Sie eigent­lich, nachts?

Ja, da liegen Sie nicht ganz falsch. Ich brauche nicht gar so viel Schlaf, aber so um viertel nach zwölf, halb eins prügele ich mich dann doch ins Bett. Mittler­weile kann ich viel in den Ferien schaffen, weil nun die Kinder aus dem Haus sind und die Ferien anders verlaufen. Dann nutze ich natürlich auch die Wochen­enden. Mein Beruf, vor allem eben die Arbeit für die ZEIT-Stiftung, bringt mich ja auch immer wieder zu längeren Fahrten und ich muss oft auch ins Ausland. Wir haben eine Filiale in den Verei­nigten Staaten, so dass ich ein paarmal im Jahr nach New York fliege. Wir haben ein weiteres eigenes Institut in Haifa, also ich bin relativ viel unterwegs und ich kann mich ziemlich gut konzen­trieren. Ich kann in einen Flieger steigen, den Laptop öffnen und dann bin ich ganz verwirrt, wenn sechs Stunden später der Flieger dann schon wieder irgendwo runter geht.

Also Schreiben Sie in Etappen und gar nicht lange an einem Stück?

Das funktio­niert im Grunde ganz gut. Es ist natürlich notwendig, dass man immer wieder genau notiert, welche Augen­farbe man einer Person zugeschrieben hat, ob sie blondes Haar oder schwarzes Haar hat, damit man im Verlauf der Erzählung keine Fehler macht. Ich konzen­triere mich in den Büchern zumeist auf zwei bis drei Haupt­ge­stalten, nicht auf fünf, sechs oder sieben. Auch das hilft ein Buch, eine Erzählung, eine Geschichte, die einzelnen Personen im Kopf zu haben, auch wenn der Prozess des Schrei­bens sich dann über zwei, drei Jahre hinzieht.

Haben Sie schon ein neues Thema im Visier?

Oh ja!. Als „Vor der Wand“ fertig war, habe ich mit meinem dritten Buch begonnen und arbeite jetzt peu à peu daran. Ich habe im Moment sehr viel für die ZEIT-Stiftung zu tun, das wird also noch ein bisschen dauern. Ich rechne damit, dass es vielleicht 2016 fertig wird.

„Der Seiltänzer“ und „Vor der Wand“ sind sehr schwere Romane. Dürfen die Leser denn mal etwas Lustiges von Ihnen erwarten?

Ich glaube, ich kann keine Komödien schreiben. Ich finde das ungeheuer schwierig. Ich brauche eigent­lich immer ein packendes Thema. Ein Thema, das mich beschäf­tigt, das viele Menschen beschäf­tigt. So geht es in dem dritten Buch im Grunde wieder um ein ernstes Thema. Aber ich versuche auch da, wie in „Vor der Wand“, durch die Neben­hand­lungen auch immer mal wieder etwas Vergnüg­li­ches hinein­zu­bringen. Also wenn Sie bei „Vor der Wand“ daran denken, wie sich der Georg in Marie verliebt oder an seine Schulzeit, den Besuch in Paris, dann sind das schon auch Passagen, bei denen der Leser einfach mal durch­schnaufen kann und merkt, es handelt sich um einen ganz normalen Bildungs­roman, in dem die Haupt­ge­stalt Georg Mertens auch ganz lustige Dinge erlebt.

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