„Onkel Fritz ist zurück aus Frank­reich – im Zinksarg!“

Familienidylle im Schatten der Krematoriums-Schlote: Fritz Hartjenstein mit Ehefrau Guste und den beiden Söhnen. Foto: privat

Gegen das Vergessen und die Verharm­lo­sung: Autor Jürgen Gückel legt eine spannende, erhel­lende und lesens­werte Dokumen­ta­tion über den weitge­hend unbekannten Peiner KZ-Komman­danten von Auschwitz, Fritz Hartjen­stein, vor.

Wer war Fritz Hartjen­stein? In seiner Heimat­stadt ist der einstige KZ-Komman­dant so gut wie unbekannt. Wenn Schul­klassen an die Orte seiner Verbre­chen reisen, erfahren sie dort viel über die millio­nen­fache Morde in der Todes­ma­schi­nerie der Natio­nal­so­zia­listen, aber nichts darüber, dass ein Zeitge­nosse ihrer Groß- oder Urgroß­el­tern, vielleicht deren einstiger Schul­ka­merad oder Nachbar in Peine, beteiligt war an diesem einzig­ar­tigen Massen­töten. So steht es geschrieben am Anfang der Neuerschei­nung „Heimkehr eines Auschwitz-Komman­danten. Wie Fritz Hartjen­stein drei Todes­ur­teile überlebte“.

Lesungen in Peine und Wolfen­büttel

Jürgen Gückel, Journa­list und Buchautor aus Peine, hat es verfasst. Er hatte sich gemeinsam mit Werner Hülsner, dem Großneffen dieses Hartjen­steins, auf Spuren­suche in die nebulöse Nazi-Vergan­gen­heit dieses SS-Schergen begeben und hat nun die Dokumen­ta­tion in spannendem Repor­ta­ge­stil verfasst. Es ist ein erhel­lendes und unbedingt lesens­wertes Buch über eine wahre Geschichte, die Jahrzehnte lang totge­schwiegen wurde. Dabei war Hartjen­stein (1905 – 1954) der hochran­gigste SS-Offizier, den es in Peine in dieser dunklen Zeit gegeben hatte. Gückel liest aus seinem bemer­kens­werten Buch am 13. Oktober (18.30 Uhr) in der Sadtbü­cherei Peine (Winkel 30A) und am 21. Oktober (19 Uhr) in der Gedenk­stätte in der JVA Wolfen­büttel (Ziegen­markt 10).

Die Lektüre ist durchaus schwere Kost, sie lohnt allemal auch für Nicht-Histo­riker und Nicht-Peiner. Das Buch ist geschrieben gegen das Vergessen des Unfass­baren. Schonungslos ist zu lesen von schlimmen Grausam­keiten im Nazi-Deutsch­land, von einer deutschen Nachkriegs­ge­sell­schaft, die lieber verharm­lost, anstatt schonungs­lose Aufklä­rung zu verlangen, und von inter­na­tio­naler Diplo­matie, die aus Furcht vor Verstim­mungen lieber einen üblen Täter als „freien Mann“ sterben lässt, anstatt ihn als Kriegs­ver­bre­cher für jedermann nachvoll­ziehbar zu postu­lieren.

Werner Hülsner recher­chierte jahrelang

„Onkel Fritz ist zurück aus Frank­reich – im Zinksarg!“ Dieser Satz hat Werner Hülsner nie mehr losge­lassen. Er war schon 23 Jahre alt und Student, als er das hörte. Hartjen­stein, der dreimal wegen seiner Gräuel­taten zum Tode verur­teilt worden war, war 1954 an Blasen­krebs gestorben. Vier Stunden vor seinem Tod war er aus Kriegs­ge­fan­gen­schaft entlassen worden, um die franzö­sisch-deutsche Annähe­rungen nicht zu belasten. Der Krieg war neunein­halb Jahre vorbei.

Außer Werner Hülsner, der nach dem Studium in Göttingen als Diplom-Handels­lehrer in seine Heimat­stadt Peine zurück­kehrte, wollte so richtig niemand wissen, was dieser ominöse Hartjen­stein vor seinem Tod alles getrieben hat. Knecht war er gewesen bevor er zum Militär ging und dort Feldwebel wurde. Später machte er Karriere bei den Nazis als SS-Obersturm­bann­führer, wurde Lager­leiter der Konzen­tra­ti­ons­lager Auschwitz und später Natzweiler im besetzten Elsass.

Ehema­liger Lehrer bat um Unter­stüt­zung

Werner Hülsner gab sich damit nicht zufrieden, doch seine jahre­langen Recher­chen wollten einfach kein klares Bild von diesem Übeltäter zeichnen. Als Jürgen Gückel schließ­lich aus seinem ebenfalls dokumen­ta­ri­schen Buch „Klassen­foto mit Massen­mörder – Das Doppel­leben des Artur Wilke“ las, übergab ihm Werner Hülsner, einst Gückels Lehrer an der Handels­schule in Peine, die Ergeb­nisse seiner bishe­rigen Nachfor­schungen und bat um Unter­stüt­zung. Fortan brachten beide gemeinsam Licht ins grausige Dunkel Fritz Hartjen­seins.

Der hatte das KZ Narzweiler zu einem gigan­ti­schen Apparat ausgebaut. Es gab rund 70 Außen­lager. Eines davon war Vaihingen. An die Zustände dort erinnerte sich später der politi­sche Gefangene Hanns Gross­peter, der schon mehr als fünf Jahre Lagerhaft hinter sich hatte, als er nach Vaihingen abgeschoben wurde. „Ich musste mich dazu zwingen, mir eine Kranken­ba­racke näher anzusehen und sie zu betreten. Ein Geruch von Leichen, Urin, Fäulnis und Fäkalien packt mich an der Gurgel und verschlägt mir den Atem. Skelett­ar­tige Wesen krochen auf dem Boden oder hingen von den Pritschen. Manche Kranke waren völlig erschöpft und wogen nicht mehr als 40 Kilo, waren bedeckt mit entzünd­li­chem Zellge­webe und Geschwüren, mit schmut­zigen Verbänden, litten an Ruhr und konnten sich nicht mehr allein fortbe­wegen. Ihr Darmin­halt war ganz wässrig, sickerte durch die Stroh­ma­tratze und tropfte auf die Pritsche darunter. Ein Überleben erschien hier undenkbar. Trotz meiner Erfah­rungen hatte ich so etwas noch nie gesehen. All das hatte System. Der ‚Block der Krepie­renden‘ wurde sogar bei den anderen Kranken im Revier als Druck­mittel für eine baldige Genesung einge­setzt“, wird er in Gückels Buch zitiert.

Ganz normale Garni­sons­stadt?

Dafür war Hartjen­stein verant­wort­lich, ebenso für hunderte, ja tausende Tote. „Auschwitz bezeich­nete er dennoch als ganz normale Garni­son­stadt, so wie Celle oder Braun­schweig. Und er sei auch nur zum KZ-Komman­danten geworden, weil die SS ihm böse mitge­spielt habe. Er sei straf­ver­setzt worden wegen einer missra­tenen militä­ri­schen Aktion“, berichtet Jürgen Gückel, langjäh­riger Redakteur im Hause Madsack und am Ende Gerichts­re­porter, von der Schön­fär­berei eines barba­ri­schen Mannes. Als es nach dem Krieg zu Prozessen kam, gab es keine Zeugen, die Hartjen­stein konkret belas­teten und ihm persön­lich Morde zuordnen konnten.

Die Verklä­rung von Grausam­keiten reichte bis in die Familie. So soll Hartjen­steins Ehefrau Guste, ist in dem Buch geschil­dert, gegenüber ihren erwach­senen Kindern später erzählt haben, dass der Vater an manchen Abenden, wenn er nach dem Inspi­zieren der Baracken zurück ins behag­liche Haus in der SS-Siedlung gekehrt sei, am Küchen­tisch gesessen und geweint habe. „Ein so großer, starker Mann – und sitzt mir in der Küche und weint bitter­lich!?“

Fakten:

Heimkehr eines Auschwitz-Komman­danten
Jürgen Gückel
Vanden­hoeck & Ruprecht Verlage
2021, 303 Seiten mit 36 s/w Abb., gebunden
29 Euro
ISBN 978–3‑525–31137‑0

Auch als eBook erhält­lich

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