Verkrüp­pelte Kaufleute als Finan­ciers?

Giebel von St. Andreas: Jesus Christus auf einem Thron. Links und rechts daneben befinden sich insgesamt vier „Krüppel“. Foto: Peter Sierigk
Giebel von St. Andreas: Jesus Christus auf einem Thron. Links und rechts daneben befinden sich insgesamt vier „Krüppel“. Foto: Peter Sierigk

Braun­schweigs skurrile Ecken und andere Merkwür­dig­keiten, Folge 9: Gewagte Legende um den Bau der St. Andre­as­kirche.

An der Südseite der Kirche St. Andreas liegt die Verbin­dungs­straße zwischen Wollmarkt und Reichs­straße, die Kröppel­straße. Hochdeutsch also die „Krüppel­straße“, ein doch seltsamer Name, der im Braun­schweig des Mittel­al­ters noch nicht existierte. Er taucht erstmals auf einer Stadt­karte von 1671 auf. Frühere Bezeich­nungen waren z.B. Partwete oder nur noch de twete.

Auf der Suche nach einer möglichen Erklärung für die Umbenen­nung gehen wir zur Pfarr­kirche der Neustadt, einem der fünf Weich­bilder unserer Stadt. Betrachten wir nun St. Andreas von der Kröppel­straße aus, so erkennen wir an den beiden Ostgie­beln sowie an vier Südgie­beln die Skulp­tu­ren­gruppen. Sie stellen von Osten beginnend folgende Ereig­nisse dar: Propheten und die Verkün­di­gung, die Anbetung der Könige, Flucht nach Ägypten, Kinder­mord von Bethlehem und den zwölf­jäh­rigen Jesus im Tempel.

Am nordwest­li­chen Giebel befindet sich die Darstel­lung des gekreu­zigten St. Andreas von 1419. Andreas war, wie auch sein Bruder Simon Petrus, einer der Apostel Jesu Christi und gilt als der Apostel Klein­asiens. Der Legende nach wurde er in Patras gekreu­zigt, und zwar an einem Kreuz mit schrägen Balken, dem sogenannten Andre­as­kreuz – wie man ja noch heute das Verkehrs­zei­chen vor Eisen­bahn­über­gängen bezeichnet. Seine Reliquien wurden an verschie­dene Orte gebracht, eine Armre­li­quie schließ­lich auch nach Köln, wo sie in der Kirche St. Andreas einen Platz erhielt.

Und die „Krüppel“? Wir betrachten den Giebel, auf dem deutlich Jesus Christus erkennbar ist, auf einem Thron sitzend. Links und rechts daneben befinden sich insgesamt vier „Krüppel“. Doch diese Deutung ist umstritten und wird zurück­ge­führt auf eine Legende, die uns der Zollschreiber Herman Bote überlie­fert hat, dem wir bekannt­lich auch schon das Buch von Till Eulen­spiegel zu verdanken haben – was aller­dings in neuester Zeit auch bestritten wird. Das 1515 in Straßburg erschie­nene Werk hieß richtig „Ein kurtz­weilig Lesen von Dil Ulenspiegel geboren uß dem Land zu Brunßwick, wie er sein leben volbracht hat“ und erschien lediglich mit dem Verfas­ser­ver­merk „N.“

Sicher ist dagegen Botes Urheber­schaft für das Schicht-Buch der Stadt Braun­schweig, ebenfalls 1515 erschienen. Dort schrieb der Chronist: „Unde de kerken in oren anhevende hebben begunt to buwende de koplude, dat sind kroppel gewesen …“ (Quelle: Heinrich Meier: Die Straßen­namen der Stadt Braun­schweig, Quellen und Forschungen zur Braun­schwei­gi­schen Geschichte, Band 1, Wolfen­büttel 1904).

Bote berichtet also in dieser Legende, dass an der Stelle, an der die Kirche St. Andreas errichtet wurde, reiche, verkrüp­pelte Kaufleute lebten, die den Bau der Kirche finan­ziert hätten. Doch diese Geschichte wird sich kaum aufklären lassen, denn schon gibt es Hinweise darauf, dass einige Figuren deshalb verun­staltet wirken, weil sie eine unzuläng­liche Stein­metz­ar­beit zeigen und zudem unter dem Witte­rungs­ein­fluss gelitten hätten. Wie auch immer – auf den Betrachter wirken die gedrun­genen Figuren jeden­falls seltsam.

Die Kirche selbst wurde wohl um 1225/30 als vollständig gewölbte Pfeiler­ba­si­lika gebaut und hatte zunächst nur drei Langhaus­jo­chen, Querhaus, Chorqua­drat und drei Apsiden, getreu dem Vorbild, unserem Dom, der Stifts­kirche für den Heiligen St. Blasius. Der Westbau wurde um 1250 begonnen, der Umbau zur Hallen­kirche begann um 1300 und wurde bis zur Mitte des 14. Jahrhun­derts mit dem Langchor fortge­setzt. Die Altar­weihe fand dort 1353 statt. Gegen Ende des 14. Jahrhun­derts bis zum Anfang des 15. Jahrhun­derts erhielten die Joche, mit Ausnahme der Chorapsis, Giebel­be­krö­nungen und Blend­maß­werk (Quelle: Braun­schweiger Stadt­le­xikon, Braun­schweig, 1992).

Das Glocken­ge­schoß unserer Kirche in der Neustadt wurde um 1450 vollendet, die oberen Geschosse des Südturms hat Barward Tafel­maker in spätgo­ti­scher Form von 1518 bis 1532 vollendet. Die Kirche wurde schon 1528 ev.-luth. Pfarr­kirche. Nach dem Wieder­aufbau der im Krieg zerstörten Turmhelme wurde auch der Innenraum bis 1965 neu gestaltet, ein Glocken­stuhl mit sieben Glocken 1987/88 eingebaut. Die Kirche besitzt den höchsten Kirchturm der Stadt mit 93 Metern, mit dem Einbau eines Treppen­auf­stiegs ist der Südturm seit dem Jahr 2000 zu besteigen, das heißt: Nach 389 Stufen kommt man in die Turmstube auf einer Höhe von 72 Metern.

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