Viel mehr als nur das VW-Werk

Der Käfer bestimmte das Straßenbild in Wolfsburg. Foto: JHM Verlag, Rosemarie Rohde
Der Käfer bestimmte das Straßenbild in Wolfsburg. Foto: JHM Verlag, Rosemarie Rohde

Johann Heinrich Meyer Verlag gibt anläss­lich des 70-jährigen Bestehens der Wolfs­burger Nachrichten Magazin „Wolfs­burger Geschichte(n)“ mit Texten von Eberhard und Fotos von Rosemarie Rohde heraus.

Rosemarie und Eberhard Rohde. Foto: JHM Verlag, Holger Isermann
Rosemarie und Eberhard Rohde. Foto: JHM Verlag, Holger Isermann

Wie kein Zweiter kennt der 89 Jahre alte Eberhard Rohde die Entwick­lung der Stadt Wolfsburg. Und wie keine Zweite hat seine Ehefrau Rosemarie die Zeit des Aufbaus in Zeiten des Wirtschafts­wun­ders mit der Fotoka­mera festge­halten. „Ich habe das Wachsen und Werden einer jungen Stadt erlebt. Das war ein großes Glück, das sich so wohl kaum mehr wieder­holen lässt“, sagt Rohde im Vorwort des gerade im Johann Heinrich Meier Verlag (JHM) erschienen Magazins mit seinen „Wolfs­burger Geschichte(n)“. Der ehemalige Redak­ti­ons­leiter der Wolfs­burger Nachrichten (WN) war von 1958 bis 1995 als Journa­list in der Stadt tätig. Seine Frau war Fotografin der WN. Von ihr stammen nahezu alle histo­ri­schen Bilder.

Die aufge­schrieben Geschichten und die ausge­wählten Fotos sind das untrüg­liche Zeugnis der starken Identi­fi­ka­tion des Ehepaars Rohde mit ihrer Stadt, die tatsäch­lich erst nach Kriegs­ende ihren Namen Wolfsburg erhielt und zuvor von den Natio­nal­so­zia­listen lieb- und einfallslos Stadt des KdF-Wagens (1938) getauft worden war. „Nur gut, dass die damaligen Stadt­ver­ord­neten nicht etwa für Rothen­felde, Hesslingen, Porsche­stadt oder gar Neu-Fallers­leben gestimmt haben. Alles Namen, die einst kursierten“, erinnert Rohde mit Grausen. Der Stadtname Wolfsburg war seiner­zeit ins Gerede gekommen, weil Hitlers Deckname im Dritten Reich doch „Wolf“ lautete. Wie abstrus, schließ­lich heißt die Burg am Aller­über­gang seit 1302 schon Wolfsburg. Was lag also näher?

Keine Zeile ohne Liebe

Erholung am Allersee. Foto: JHM Verlag, Rosemarie Rohde
Erholung am Allersee. Foto: JHM Verlag, Rosemarie Rohde

„Natürlich hänge ich an Braun­schweig, denn dort habe ich meine Jugend verbracht. Aber mein Herz gehört Wolfsburg“, wird Rohde in „seiner“ Zeitung in einem Interview zum Erscheinen der „Wolfs­burger Geschichte(n)“ zitiert. Diese starke Emotio­na­lität ist beim Lesen der Zeilen und selbst­ver­ständ­lich beim Betrachten der Fotos allge­gen­wärtig. Keine Zeile ohne Liebe. Ältere schwelgen in Nostalgie, Jüngere werden staunen, wie sich die Stadt in nur 70 Jahren zu einem weltweit bedeu­tenden Kraft­zen­trum entwi­ckelt hat.

Wir schmun­zeln, wenn wir im Kapitel „Jubel über VW-Lose für eine Viertel­mil­lion“ lesen, aber es beschreibt die Wolfs­burger Rasanz. Rohde schreibt: „Dafür würden unsere heutigen VW-Produk­ti­ons­ma­nager nur ein müdes Lächeln erübrigen. Wer feiert denn heutzu­tage noch die Produk­tion des 250.000. Wagens, wo doch jährlich Millionen Fahrzeuge vom Band laufen? Damals, im Oktober 1951, war die Viertel­mil­lion Anlass für ein großes Stadt- und Werksfest. Als Gewinn stand ein Export-Käfer auf dem Podest. VW-Chef Heinrich Nordhoff selbst hatte Fest und Preis verordnet.“

Diese Geschichte endet damit, dass der Gewinner, Vorar­beiter Friedrich Koch, gar keinen Führer­schein hatte. Eine Wolfs­burger Firma schenkte ihm aber zusätz­lich das Geld für den Führer­schein. „Auch die ‘lieben Arbeits­ka­me­raden‘, wie Nordhoff seine Werker zu nennen pflegte, wurden beschenkt. In jener fernen Zeit der ersten Blüten des deutschen Wirtschafts­wun­ders erhielten sie ganze 70 D‑Mark. Steuer­frei, wie der Chef betonte. Viel Geld damals“, berichtet Rohde weiter.

87 kurzwei­lige Episoden

Das Buch besteht aus 87 kurzweilig und kennt­nis­reich geschrie­benen, histo­ri­schen Kolumnen. Jede Episode steht für sich und ist mit einem Schwarz-Weiß-Foto illus­triert, so wie das bis in die 1980er Jahre eben bei Zeitungen üblich war. Es finden sich tatsäch­lich mehr Geschichten als bedeu­tende geschicht­liche Daten auf den 114 Seiten. Und das ist gut so, denn, wenn etwas für die im Prinzip ja noch sehr junge Stadt identi­täts­stif­tend ist, dann ist es dieses liebens­werte Erzählen Rohdes. Auch Nicht-Wolfs­burger blättern das Magazin mit viel Sympathie durch, weil die Entwick­lung der Stadt Wolfsburg mit dem alles überstrah­lenden Volks­wagen-Werk ja auch eine Erfolgs­ge­schichte für die Menschen in der gesamten Region ist.

Im den Geschichten vorge­schal­teten Interview schildert Eberhard Rohde die atembe­rau­bende Entwick­lung der Anfangs­jahre. Mit dem Aufstieg des Käfers habe Wolfsburg einen gewal­tigen Schub bekommen, weil die Stadt sehr viel Gewer­be­steuer einnahm. „Wolfsburg war schnell eine der reichsten Städte überhaupt in Nieder­sachsen und konnte die ganzen neuen Stadt­teile planen. Die Stadt­ver­wal­tung kam manchmal gar nicht hinterher, weil das Werk immer neue Mitar­beiter brauchte und die ja irgendwo wohnen mussten“, so Rohde.

Integra­tion klappte

Rohdes Geschichten über Wolfsburg beginnen tatsäch­lich 1939. „Das erste größere Stadt­ge­bäude war übrigens das damalige Leidi­gen­heim, heute ein Altenheim in der Goethe­straße. Nach und nach wuchsen am Steimker Berg und in der heutigen Innen­stadt die ersten Wohnblöcke aus dem sandigen Boden. Der behäbige Aufbau ist allein den braunen Macht­ha­bern zu verdanken: Viele Arbeits­kräfte wurden für den Bau des Westwalls benötigt. Die angewor­benen italie­ni­schen Arbeits­kräfte reichten auch zahlen­mäßig nicht aus“, schreibt der Stadt­chro­nist.

Die Italiener sorgten in den 1960er Jahren für heitere Stimmung. Foto: JHM Verlag, Rosemarie Rohde
Die Italiener sorgten in den 1960er Jahren für heitere Stimmung. Foto: JHM Verlag, Rosemarie Rohde

Nach dem Krieg und mit der großen Käfer-Nachfrage wurden erneut sogenannte Gastar­beiter benötigt. „Wo heute die VfL Arena steht, wurden mehr als 30 Baracken aufgebaut und dort lebten bis zu 5.000 italie­ni­sche Arbeits­kräfte. Anfangs noch abgeschirmt durch einen Zaun, es gab sogar Wachen“, sagt Rohde im Eingangs­in­ter­view des Magazins. Und seine Frau ergänzt. „Aber das hat sich dann schnell geändert. Immer mehr von ihnen haben eine Wohnung gefunden und sich nieder­ge­lassen.“ Die Integra­tion klappte. Auch das ist gerade in unseren Zeiten eine bedeu­tende und sehr lesens­werte Wolfs­burger Geschichte.

Das Magazin ist im regio­nalen Buchhandel und den Service-Centern erhält­lich. Preis 9,80 Euro.

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