Vor 65 Jahren: Aprildemo und Staub beim Abbruch

An die 3000 Braunschweiger hatten laut DPA am 23. April 1960 gegen den Abbruch protestiert.
An die 3000 Braunschweiger hatten laut DPA am 23. April 1960 gegen den Abbruch protestiert.

Herzog­li­ches Kalen­der­blatt, Folge 11: Beim Abriss des Residenz­schlossses vor 65 Jahren wurde Braun­schweig Schau­platz einer der ersten Großde­mons­tra­tionen seit Kriegs­ende.

Im August 1960 war der Abbruch der Schloss­ruine beendet, später als von den Verant­wort­li­chen geplant. Drei der vier Gutachten von 1959/60 zum Zustand des Gebäudes hatten auf die Mauer­fes­tig­keit immer wieder hinge­wiesen und die Wieder­her­stell­bar­keit des Schlosses empfohlen, nur ein Gutachten wider­sprach. Darauf aber stützte sich allein der SPD-geführte Stadtrat. Tatsäch­lich lag im August eine „große Staub­wolke“ über der Abbruch­stelle.

Die beauf­tragten Archi­tektur-Profes­soren der TH Braun­schweig hatten sich in ihren Beurtei­lungen also nicht geirrt. Sie hatten ihre Begut­ach­tungen auf Bitten der Stadt unter­nommen und die Ergeb­nisse in einem offenen Brief am 24. April veröf­fent­licht. Oberbür­ger­meis­terin Martha Fuchs schob die Rettungs­ver­suche jedoch beiseite. Selbst die Proteste der erhitzten Öffent­lich­keit aus Braun­schweig, der Region und aus dem ganzen Bundes­ge­biet seit Januar, es sei für eine Rettung der Braun­schweiger Schloss­ruine noch nicht zu spät, ließ der Stadtrat ins Leere laufen. Nichts fruchtete.

Die Ruine des Braunschweiger Residenzschlosses am Bohlweg nach Nordosten, um 1958.
Die Ruine des Braun­schweiger Residenz­schlosses am Bohlweg nach Nordosten, um 1958.

Großde­mons­tra­tion in Braun­schweig

So traf es auch am 23. April die große Demons­tra­tion vor dem Schloss, die Gottfried Hartwieg, Vorsit­zender im Landes­verein für Heimat­schutz, Kaufmann Richard Borek und der Architekt Helmut Ebbecke ausge­richtet hatten. Am 21. April hatte Richard Borek eine ganzsei­tige Anzeige in der Braun­schweiger Zeitung geschaltet, die zum Kommen aufrief: „Auch die Schloß­fas­sade sinkt jetzt in Trümmer. Braun­schweiger Bürger! Man zerstört das Gesicht Eurer Heimat­stadt“. Der Unter­nehmer ließ auch noch Flugblätter in der hausei­genen Druckerei anfer­tigen und sorgte für die Lautspre­cher­wagen. Etwa 3.000 Besucher kamen an jenem Sonnabend im April ab Mittag vor das Schloss, so dass die Abbruch­ar­beiten für einige Stunden unter­bro­chen wurden. Gottfried Hartwieg beschwor von der ‚Redner­bühne‘, einer LKW-Ladefläche, die Zuhörer: „Die Kundge­bung ist einbe­rufen worden…, um zu beweisen, daß sich nicht nur ein kleiner Teil der Bevöl­ke­rung für die Erhaltung des Schlosses einge­setzt hat“.

Es war eine der ersten Großde­mons­tra­tionen in der jungen Bundes­re­pu­blik. Die Deutsche Presse­agentur berich­tete ausführ­lich über dieses Volks­be­gehren in der Stadt an der Zonen­grenze. Die lokale Braun­schweiger Zeitung lehnte diese erste Bürger­initia­tive jedoch ab. Besonders die Angriffe auf Oberbür­ger­meis­terin Fuchs missfielen ihr, obwohl sie zutrafen, denn Fuchs war eine entschei­dende Befür­wor­terin des Abbruches! Sie hätte ihn, wenn sie es gewollt hätte, verhin­dern können.

Flugblatt Richard Boreks zur Demonstration gegen den Schossabbruch am 23.April 1960;
oben links: Borek vorm Schloss am Mikrofon; darunter: Die ehemalige Herzogin Victoria Luise in der Menschenmenge.
Flugblatt Richard Boreks zur Demons­tra­tion gegen den Schossab­bruch am 23.April 1960; oben links: Borek vorm Schloss am Mikrofon; darunter: Die ehemalige Herzogin Victoria Luise in der Menschen­menge.

Reaktion auf das Bürger­be­gehren

Hatte die Kundge­bung Eindruck auf die Stadt­ver­ord­neten gemacht? Nein! Im Gegenteil: zwei Tage später berichtet die Braun­schweiger Zeitung am 25.4.1960, dass der Stadtrat die ersten Mittel für die Planung der Stadt­halle am Haupt­bahnhof freigab. Ihre Heraus­lö­sung aus dem Schloss­aufbau hatte diesem im Herbst 1959 den Boden entzogen. Der Artikel in der BZ vom 25.4.1960 betonte Wille des Stadt­rates zum Aufbau der Stadt versagte beim Schloss völlig, aber beschied der Stadt Projekte, die Jahre später abgelehnt wurden: Der viel zu große J.-F.Kennedy-Platz und das Kerntan­gen­ten­qua­drat zerglie­dern noch heute die Stadt. Erst 2006 konnte z. B. der monströse Bohlweg zurück­ge­baut werden.

Immerhin: wenigs­tens hat die geschun­dene, östliche Stadt­mitte mit der weitge­henden Schloss­re­kon­struk­tion ihre städti­sche Großzü­gig­keit wieder gewonnen, was schon 1960 mit gutem Willen hätte erreicht werden können.

Leser, die die damalige Diskus­sion in der BZ in Breite erfahren möchten, seien auf die Veröf­fent­li­chungen des Autors hinge­wiesen, so in: Das ehemalige Residenz­schloss zu Braun­schweig. Eine Doumen­ta­tion über das Gebäude und seinen Abbruch, Braun­schweig 1993³.

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