„Tiefschlaf im Segelflug“

Skulptur einer jungen Frau mit einer unförmigen Taube auf dem demütig gesenkten Kopf. Foto: Andreas Greiner-Napp
Skulptur einer jungen Frau mit einer unförmigen Taube auf dem demütig gesenkten Kopf. Foto: Andreas Greiner-Napp

Klaus Stümpel stellt im raumLABOR an der Hamburger Straße aus.

Bei den alten Kämpen der Kunst­hoch­schule weiß man, was einen erwartet. Sartorius zum Beispiel ist der fantas­ti­sche Zeichner von sonnen­durch­glühten Landschaften und allerlei Korbge­flecht. Monkie­witsch ist der virtuose Spieler mit Geometrie und Raum-Illusion. Dörfler war der Maler gefes­selter, gesichts­loser Körper. Und Klaus Stümpel ist der mit den Vögeln.

Schon als Kind hat dieser Mann Vögel beobachtet und erforscht, sich eine Sammlung toter Vögel angelegt, hat Brief­tauben gezüchtet. Er hat sie gepflegt, getötet, präpa­riert, er hat sie gezeichnet, gemalt und colla­giert. Im Katalog zu seiner Ausstel­lung im Braun­schweiger raumLABOR an der Hamburger Straße steht ein bemer­kens­werter Satz von ihm: „Der Vogel ist für mich ein Lebewesen, das ich sozusagen selbst durchlebt habe.“

Dieser Satz lässt die Sehnsucht ahnen, sich in einen Vogel hinein­zu­ver­setzen und das eigene, mensch­liche Leben durch größt­mög­liche Annähe­rung in dem der Vögel aufgehen zu lassen. Der Satz ist freilich rational letztlich nicht aufzu­schlüs­seln. Sein Sinn ist aufge­hoben in der Kunst. Deshalb, so darf man annehmen, macht dieser Mann ja überhaupt Kunst. Um sich selbst als Misch­wesen zwischen Mensch und Vogel begreifbar zu werden. Anders geht es nicht.

Dabei war der Weg zum Künstler alles andere als gerad­linig. Nach der Schule lernte Stümpel Plakat­maler, seine Bewerbung an der Braun­schweiger Werkkunst­schule wurde abgelehnt, er ging nach Skandi­na­vien, wurde Schiffs­junge, Teller­wä­scher, arbeitete bei einem Wander­zirkus, war Fallen­steller und durch­streifte die Natur. Als er 1965 heimkehrte in seine Geburts­stadt, hatte seine Bewerbung an der Kunst­hoch­schule Erfolg.

Die künst­le­ri­sche Lebens­bi­lanz des 72-Jährigen zieht nun die zweitei­lige Ausstel­lung „Tiefschlaf im Segelflug“. Im ersten Teil, der in den frühen 70er-Jahren beginnt, lernen wir Stümpel als einen brillanten Zeichner kennen, der mit feinem Strich und plasti­scher Schraffur dichte Räume schafft, in denen Tiere eine Art Schat­ten­exis­tenz zwischen Gerümpel und Unrat führen: Vögel, aber auch Katzen, Meerkatzen, Fische auf dem Trockenen. In einem markanten und auch etwas unheim­li­chen Selbst­bildnis hält der Künstler einen Waran in der Faust. Oft führt ein teilweises Überein­ander der darge­stellten Gegen­stände, eine Durch­drin­gung der Konturen, tief hinein in einen dunkel schwir­renden Bildgrund.

Bei der großen Pastell-Zeichnung einer toten Taube aus dem Jahr 1975 hingegen ist jedes Federchen mit großer Klarheit und beinahe fotorea­lis­ti­scher Akribie ausge­führt. Der Hals ist abgeknickt, die Augen sind schwarz und leer. In den Augen des gezausten Bussards, der mit geneigtem Kopf und abgewin­kelten Krallen auf dem Rücken liegt, scheint nur noch ein letztes Glimmen von Leben.

Die gewaltige Raubvogel-Collage, welche die Stirn­seite des Ausstel­lungs­raums dominiert, erscheint mit ihren seitlich abgespreizten Flügeln und dem schmerz­haft empor gewor­fenen Kopf wie gekreu­zigt. Merkwürdig auch eine Skulptur einer jungen Frau mit einer unför­migen Taube auf dem demütig gesenkten Kopf, die auf einem Bussard­flügel steht.

Sterbende, tote Vögel dominieren im Werk von Klaus Stümpel. Sicher, der Mann, der auch die riesige Sammlung von Vogel-Bälgern des Natur­his­to­ri­schen Museums als Quelle der Anschauung und der Inspi­ra­tion nutzt, nimmt halt tote Vögel als Motive. Auf den Betrachter wirkt der Sturz der vermeint­lich schwe­re­losen Himmels­wesen besonders tief und erden­schwer. Stümpels zitierter Satz, das Lebewesen Vogel selbst durchlebt zu haben, scheint so begreifbar als eine durch eine besondere Leiden­schaft gefil­terte mensch­liche Erfahrung von Glück, Sehnsucht und Scheitern.

Klaus Stümpel: Tiefschlaf im Segelfug. Die Ausstel­lung im raumLABOR, Hamburger Straße 267, zeigt das Gesamt­werk von Klaus Stümpel in zwei Teilen: Werke von 1973 bis 2000 (Teil 1, bis 4. Mai) und Werke von 2000 bis 2013 (Teil 2, bis 8. Juni). Teil 2 wird am 6. Mai um 19 Uhr eröffnet.

Es ist eine Ausstel­lung der Stiftung Nord/LB * Öffent­liche in Zusam­men­ar­beit mit der HBK und dem Landes­mu­seum Natur und Mensch in Oldenburg, kuratiert von Professor Dr. Michael Schwarz. Jeweils donners­tags, 18 Uhr, gibt es eine Führung, ein Künst­ler­ge­spräch, einen Promi­nen­ten­talk oder eine Kurato­ren­füh­rung.

Öffnungs­zeiten: Di. – Fr. 14 bis 19 Uhr, Sa. und So. 11 bis 18 Uhr, Karfreitag, Oster­montag und 1. Mai geschlossen.

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