Was bedeutet das Braun­schwei­gi­sche für dich?

Das Braun­schwei­gi­sche ist mehr als bloß eine Stadt. Das histo­ri­sche Braun­schweiger Land reicht von Blanken­burg im Harz bis nach Theding­hausen bei Bremen, von Helmstedt bis nach Holzminden. Einst war es das Zentrum welfi­scher Macht. Und heute? Was zeichnet das Braun­schwei­gi­sche aus? Wer prägt es? Und welche Bedeutung hat es für die Gesell­schaft und in der Kultur? Darüber haben wir mit drei Menschen gespro­chen, die das Braun­schwei­gi­sche und seine unter­schied­li­chen Facetten nicht nur theore­tisch, sondern ganz praktisch in Richtung Zukunft entwi­ckeln möchten.

So treffen wir an einem bewölkten Diens­tag­mittag Susanne Schuberth (stell­ver­tre­tende Geschäfts­stel­len­lei­terin der Braun­schwei­gi­schen Stiftung), Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel (Gründungs­di­rektor des Instituts für Regio­nal­ge­schichte an der TU Braun­schweig) und Falk-Martin Drescher (Agentur-Inhaber und Vorsit­zender des Kultviertel e.V.) zum Interview an einem Ort histo­ri­scher Bedeut­sam­keit, dem Braun­schweiger Burgplatz.

Wie sieht Ihre persön­liche Verbin­dung zu Braun­schweig aus?

Ein Wahrzei­chen des ehema­ligen Braun­schweiger Landes: Die Löwen-Statue auf dem Burgplatz. Foto: Der Löwe

Biegel: Ich komme gebürtig aus Mannheim, so wie viele bedeu­tende Braun­schweiger übrigens auch. Peter Joseph Krahe etwa, der die alten Wallan­lagen nieder­ge­legt und die heutigen erbaut hat. Scherz beiseite (lacht). Aufge­wachsen bin ich in Köln und Freiburg. 1986 wurde ich in Braun­schweig als Professor berufen. In der Badischen Zeitung schrieb man damals: „Jetzt geht er nach drüben.“ Grund war die Zonen­rand­lage von Braun­schweig.

Schuberth: Ich bin in Halle an der Saale geboren und vor 22 Jahren nach Braun­schweig gekommen. Hier habe ich meinen Mann kennen­ge­lernt und bin schließ­lich geblieben. Zwischen den beiden Städten gibt es viele Paral­lelen: Beide blicken auf eine reiche Historie zurück, sind infra­struk­tu­rell gut aufge­stellt und haben eine spannende Kultur­szene.

Drescher: Ich bin ein Kind der Region. Ich komme aus dem Nachbar­land­kreis Peine, also aus der politi­schen Mitte zwischen Braun­schweig und Hannover und bin mit 17 Jahren nach Braun­schweig gezogen. Mein Vater ist gebür­tiger Braun­schweiger und hat, seitdem ich denken kann, von der Stadt geschwärmt. Für mich war das immer eine große, schil­lernde Metropole.

Was bedeutet das Braun­schwei­gi­sche demnach für Sie?

Drescher: Braun­schweig als Zentrum ist eine „Stadt auf den zweiten Blick“. Wenn man am Haupt­bahnhof ankommt, ist man vielleicht erstmal enttäuscht oder erschro­cken. Doch dann lernt man die Innen­stadt, die kultu­rellen Angebote, Gastro­nomie und den Einzel­handel kennen und stellt fest: Braun­schweig hat viel zu bieten.

Schuberth: Wenn ich an Braun­schweig denke, fällt mir zuerst der Braun­schweiger Spargel ein. Wir haben bei uns um die Ecke ein Restau­rant, das diesen wirklich zelebriert. Das ist ganz typisch und etwas, was ich Freunden gerne mitgebe – diese authen­ti­sche Spargel­gier der Region.

Biegel: Ich würde drei Elemente unter­scheiden: Historie, Kultur und Menta­lität. Die Kulinarik ist Teil der Menta­lität und Kultur. Dazu gehört nicht nur der Spargel, sondern auch die Braun­schweiger Wurst, die selbst in Öster­reich bekannt ist, und die Mumme. Histo­risch betrachtet ist das Braun­schwei­gi­sche das Welfen­haus und die Bürger­stadt, verkör­pert durch den Burgplatz und den Altstadt­markt. Diese beiden Pole sind auch europä­isch von hoher Bedeutung.

Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Regio­nal­ge­schichte an der TU Braun­schweig. Foto: Der Löwe

„Histo­risch betrachtet ist das Braun­schwei­gi­sche das Welfen­haus und die Bürger­stadt, verkör­pert durch den Burgplatz und den Altstadt­markt. Diese beiden Pole sind auch europä­isch von hoher Bedeutung.“

Lassen Sie uns einen genaueren Blick auf die Historie werfen. Wie ist das Braun­schwei­gi­sche demnach zu definieren?

Biegel: Braun­schweig ist an das Welfen­haus gebunden und damit in die Weltge­schichte einge­gangen. Histo­risch betrachtet reicht das Braun­schweiger Land weit über die Stadt­grenzen hinaus und hat auch heute noch unzählige Leucht­türme im Umland zu bieten, beispiels­weise den Kaiserdom in Königs­lutter. Dieser ist eng mit Kaiser Lothar III. verbunden, einer wichtigen Figur der Mittel­al­ter­ge­schichte, die regional immer wieder übersehen wird.

INFO

Das Welfen­haus ist ein europäi­sches Adels­ge­schlecht, das im Hochmit­tel­alter eine der einfluss­reichsten Herrscher­fa­mi­lien des Konti­nents war. Heinrich der Löwe, Herzog von Sachsen und Bayern, machte Braun­schweig, zur Residenz­stadt der Welfen. 

Lothar III. war von 1133 bis 1137 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches auf dessen histo­ri­schen Herrschafts­ge­biet sich in Teilen das heutige Deutsch­land befindet. 

Schuberth: Auch das Tätig­keits­ge­biet unserer Stiftung orien­tiert sich nach wie vor an den histo­ri­schen Grenzen des ehema­ligen Braun­schweiger Landes – vom Harz bis nach Theding­hausen bei Bremen, von Helmstedt bis nach Holzminden.

Welche Bedeutung hat dieses Verständnis heutzu­tage? Fühlt sich beispiels­weise ein Wolfen­büt­teler als Teil des Braun­schwei­gi­schen?

Biegel: Histo­risch betrachtet ja. In Wolfen­büttel liegt beispiels­weise die Herzog­liche Biblio­thek der Welfen. Auf das Land bezogen versteht der Wolfen­büt­teler sich als Braun­schweiger.

Schuberth: Wobei der Theding­hau­sener das Braun­schwei­gi­sche natürlich überhaupt nicht auf dem Schirm hat, denn wenn er seinen Perso­nal­aus­weis beantragt, fährt er nicht nach Braun­schweig, sondern nach Verden. Ich glaube aber, dass wir durch gute Angebote dafür sorgen können, dass eine gemein­same Braun­schwei­gi­sche Identität hier in der Region wahrge­nommen wird.

Drescher: Ich denke, dass die jüngere Genera­tion nicht mehr diffe­ren­ziert zwischen den Orte hier in der Region. Das Identi­täts­ver­ständnis ist ein anderes. Natürlich ist der Peiner ein Peiner und der Wolfs­burger ist ein Wolfs­burger, aber es herrscht kein Konkur­renz­ge­fühl zwischen den Städten. Deshalb sollten wir noch viel mehr mit den Stärken und Eigen­heiten der Region arbeiten, um attraktiv zu bleiben. Manche Insti­tu­tionen sind gut darin, ihre Angebote nach außen zu trans­por­tieren, andere weniger. Und vor allem gemeinsam kann sich eine attrak­tive Region präsen­tieren.

Susanne Schuberth leitet als Stell­ver­tre­terin die Geschäfts­stelle der Braun­schwei­gi­schen Stiftung. Foto: Der Löwe

„Unsere Museen und Theater bilden ein kultu­relles Fundament, das es braucht, um sich in der Region wohlzu­fühlen.“

Zuletzt gab es einige Diskus­sion um einen Namen für die Region …

Biegel: Für mich ist und bleibt es ganz klar die Region Braun­schweig. Da gibt es histo­risch betrachtet keine andere Inter­pre­ta­ti­ons­mög­lich­keit und keinen neutralen alter­na­tiven Begriff. Wenn wir Braun­schweig-Wolfsburg sagen, wäre es beispiels­weise gegenüber der dritten Metropole, Salzgitter, unfair.

Schuberth: Die Braun­schwei­gi­sche Stiftung hat für sich eine Begriff­lich­keit gefunden, die sie benutzt, wenn sie über ihr Tätig­keits­ge­biet spricht und das ist das Braun­schwei­gi­sche Land. Das meint dann eben auch Orte wie Seesen oder Bad Ganders­heim.

Drescher: Ich denke, es gibt aktuell keinen Begriff, der es allen recht macht und der für die Außen­wahr­neh­mung griffig ist. Wenn ich im Ausland bin und sage, ich komme aus Braun­schweig, gucken mich die Leute mit großen Augen an. Dann erzähle ich von Jäger­meister, Volks­wagen, Heinrich dem Löwen und irgend­wann klingelt es. Ein Begriff wie Braun­schweig-Wolfsburg wäre prakti­kabel, weil man diesen am ehesten konno­tieren kann. Aber ganz ehrlich: Die Diskus­sion lenkt von den Inhalten ab, mit denen wir uns eigent­lich beschäf­tigen sollten.

INFO

Als Braun­schweiger Kultviertel wird das an die Innen­stadt angren­zende Friedrich-Wilhelm-Viertel rund um den Friedrich-Wilhelm-Platz bezeichnet. Ein Zusam­men­schluss von Geschäf­te­be­trei­bern und Gastro­nomen aus dem Viertel betreibt den IG Friedrich-Wilhelm-Viertel e.V., dessen Vorsit­zender Falk-Martin Drescher ist. Drescher hat die Bezeich­nung Kultviertel für das von Nacht­leben und Gastro­nomie geprägte Viertel einge­führt.

Zum Beispiel?

 Drescher: Wir müssen gemeinsam in der Region neue Kultur­for­mate für jüngere Zielgruppen schaffen, damit wir zukünftig attraktiv bleiben. Natürlich ist es wichtig, dass man hier schön wohnen kann, dass es eine gute Infra­struktur gibt, dass der Bus regel­mäßig fährt und die soziale Anbindung stimmt. Aber neben diesen indivi­du­ellen Faktoren braucht es ein kultu­relles Kollektiv, um eine gemein­same Identität auszu­bilden. Die Kultur­branche prägt das Braun­schwei­gi­sche enorm.

Inwiefern?

Schuberth: Unsere Museen und Theater bilden ein kultu­relles Fundament, das es braucht, um sich in der Region wohlzu­fühlen. In den vergan­genen Jahren sind viele gute Formate entstanden, die wir als Stiftung fördern. Es muss nicht immer das Streich­quar­tett sein – manchmal braucht es leichtere Kost.

 Drescher: Das nimmt auch die junge Genera­tion wahr. Es stimmt nicht, dass junge Menschen nicht mehr ins Theater gehen, keine Zeitung lesen oder das Museum nicht besuchen. Aber sie müssen anders angespro­chen werden. Beispiels­weise durch gemein­same Aktionen wie die Museums­nacht.

Biegel: Auch histo­risch betrachtet wurde die Braun­schwei­gi­sche Identität schon immer stark von der Kultur geprägt. Hier wurde Theater­ge­schichte geschrieben. Angefangen bei der Urauf­füh­rung von Emilia Galotti, über die Urauf­füh­rung von Heinrich Heines Almansor, die nirgendwo sonst gespielt worden ist, bis hin zur Urauf­füh­rung von Goethes Faust. Braun­schweig ist zudem eine Litera­ten­stadt mit Gotthold Ephraim Lessing, Wilhelm Raabe und Ricarda Huch.

Falk-Martin Drescher ist unter anderem Vorsit­zender des Kultviertel e.V. Foto: Der Löwe

„Neben indivi­du­ellen Faktoren braucht es ein kultu­relles Kollektiv, um eine gemein­same Identität auszu­bilden. Die Kultur­branche prägt das Braun­schwei­gi­sche enorm.“

Eines der Ziele der Braun­schwei­gi­schen Stiftung ist es, die Braun­schwei­gi­sche Identität zukunfts­fähig zu machen. Wie gelingt Ihnen das?

Schuberth: Indem wir diese Identität fördern. Wenn Förder­pro­jekte bei uns angefragt werden, prüfen wir zunächst, ob diese dazu beitragen, die Identität im positiven Sinne zu prägen und weiter­zu­ent­wi­ckeln – sei es durch innova­tive Formate oder gänzlich neue Koope­ra­tionen. Auch die Zielgruppe der Projekte ist wichtig. Es gibt viele kultu­relle Träger in der Region, die sich darum Gedanken machen, wie sie junge Menschen erreichen können, die die tradi­tio­nellen kultu­rellen Angebote nicht unbedingt nutzen würden.

Haben Sie ein Beispiel für uns?

Schuberth: Ich könnte unzählige Beispiele nennen, aber das wäre unfair anderen gegenüber (lacht).

INFO

Die Braun­schwei­gi­sche Stiftung fördert Kunst und Kultur, Wissen­schaft, Forschung und Wissen­schafts­transfer, Sport sowie Bildung und Erziehung. Bezogen auf diese Zwecke unter­stützt die Stiftung zudem bürger­schaft­li­ches Engage­ment. Die Stiftung ist ausschließ­lich in den heute im Bundes­land Nieder­sachsen gelegenen Teilen des alten Landes Braun­schweig tätig.

Wie also trans­por­tieren wir das Braun­schwei­gi­sche in Richtung Zukunft?

Drescher: Ort müssen neu und als Begeg­nungs­stätten gedacht werden. Warum gibt es etwa im Staats­theater keine Bar oder ein Café? Das würde einen Anknüp­fungs­punkt schaffen, um nach Feier­abend mit Theater­ma­chern ins Gespräch zu kommen. Neben dem Zuhause und dem Arbeits­platz haben diese Orte eine wahnsinnig hohe Bedeutung.

Biegel: Das ist ganz wichtig. Wir waren einst die Stadt der Wiener Kaffee­häuser außerhalb Wiens. Heute machen bei uns die Cafés zu früh zu. Da liegt die Schwelle zwischen einer Metropole und der Provinz. In Wien geht es nach 22 Uhr in den Cafés erst richtig los. Das Braun­schwei­gi­sche ist eine unfassbar lebens­werte Region, die Nummer eins der Wissen­schafts­stand­orte in Europa. Darauf können wir stolz sein, das müssen wir fördern. Wir sind eine Region der Zukunft, mit einer tragenden Vergan­gen­heit.

Schuberth: Wichtig ist, dass Fehler erlaubt sind. Neue Initia­tiven müssen nicht der Knaller sein und 100.000 Leute anziehen, sondern können ein Versuch sein – der entweder gelingt oder eben auch mal missglückt.

Was denken Sie, welche Spuren werden Sie im Braun­schwei­gi­schen einmal hinter­lassen?

Schuberth: Ich habe hier eine Familie gegründet und mein Sohn ist hier geboren. Der ist ein echter Braun­schweiger und er bleibt auch hier. Und in meiner Stiftungs­ar­beit versuche ich, mich bestmög­lich für das Braun­schwei­gi­sche einzu­setzen. Diese Möglich­keit hat nicht jeder, das ist ein Privileg für mich.

Drescher: Mir ist es wichtig, mich mit meinen Ressourcen, Möglich­keiten und Kontakten bestmög­lich gesell­schaft­lich einzu­bringen. Jeder von uns kann etwas dafür tun, dass wir in einer vielfäl­tigen und spannenden Region leben.

Biegel: Ich werde Geschichts­er­in­ne­rungen hinter­lassen. Das ist mein tägliches Brot und daran werden sich viele Studie­rende erinnern. Als Histo­riker schafft man keine Zukunfts­ent­wick­lung einer Stadt. Ich schaffe keine Arbeits­plätze. Aber ich kann mit meiner Arbeit erreichen, dass sich die Menschen wohlfühlen und sie sagen: Jetzt weiß ich, wo ich zuhause bin.

Der Löwe traf Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel, Susanne Schuberth und Falk Martin Drescher zum Exper­ten­in­ter­view auf dem Burgplatz. Foto: Der Löwe

Das könnte Sie auch interessieren