Pilot­pro­jekt in Wolfen­büttel über Verur­teilte der NS-Justiz

Gedenkstättenleiterin Martina Staats mit dem Original des Häftlingsbuches, in dem die 15.600 Justizverurteilten aus der Zeit des Nationalsozialismus aufgeführt sind. Foto: Stephan Querfurth

„Ewige Zucht­häusler?!“ heißt das neue Forschungs­pro­jekt in der Gedenk­stätte der JVA über NS-Opfer, die bisher kaum berück­sich­tigt wurden.

Wieder eine Perle im Collier des Wissen­schafts- und Forschungs­stand­ortes Wolfen­büttel. Das Projekt „,Ewige Zucht­häusler?!‘ – Entschä­di­gung für Justiz­ver­ur­teilte und die indivi­du­ellen sowie gesell­schaft­li­chen Auswir­kungen“ wurde gestern bei einer Presse­kon­fe­renz in der Gedenk­stätte der Justiz­voll­zugs­an­stalt vorge­stellt. Das Thema ist aufrüh­rend, wichtig, weil es etwas mit Anerken­nung zu tun hat, endlich notwen­diger Wertschät­zung. Das Forschungs­pro­jekt ist ein Pilot­pro­jekt, einmalig in der Bundes­re­pu­blik, „absolutes Neuland“, wie es Gedenk­stät­ten­lei­terin Martina Staats im Gespräch mit der Braun­schweiger Zeitung ausdrückte. Das jetzt in Wolfen­büttel angesie­delte Projekt mit fünf Mitar­bei­tenden arbeitet bundes- und europa­weit.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 27.1.2023

Am Beispiel des ehema­ligen Straf­ge­fäng­nisses Wolfen­büttel widmet es sich einer bislang kaum berück­sich­tigten Verfolg­ten­gruppe: Den im Natio­nal­so­zia­lismus inhaf­tierten und hinge­rich­teten Justiz­ver­ur­teilten. „Werden die von der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Justiz Verur­teilten ebenso als NS-Opfer anerkannt wie Häftlinge aus Konzen­tra­ti­ons­la­gern?“, fragt Staats. „Wie ist ihre gesell­schaft­liche Anerken­nung?“

526 Menschen hinge­richtet

Presse­kon­fe­renz zum bundes­weit einma­ligen Projekt „Ewige Zucht­häusler“, das jetzt in Wolfen­büttel angesie­delt ist, mit Koope­ra­ti­ons­part­nern, wissen­schaft­li­chen Mitar­bei­tern und Angehö­rigen der Opfer. Foto: Stephan Querfurth

Zum Hinter­grund: In das Straf­ge­fängnis Wolfen­büttel wurden in der Zeit von Oktober 1937 bis März 1945 mehr als 15.600 Menschen als von der NS-Justiz Verur­teilte einge­lie­fert. 526 von ihnen wurden hinge­richtet. Es handelte sich bei ihnen um Wider­stands­kämpfer und andere Gegner des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Systems, um „Asoziale und Volks­schäd­linge“, Homose­xu­elle, zur Zwangs­ar­beit Verpflich­tete, Juden, Zeugen Jehovas und Sinti. Sie alle kamen aus Deutsch­land und dem europäi­schen Ausland.

Die heutige Gedenk­stätte auf dem Gelände der Justiz­voll­zugs­an­stalt hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Unrechts­taten der Justiz des Natio­nal­so­zia­lismus nicht in die Verges­sen­heit versinken zu lassen. Gestern, am 27. Januar, wurde der Inter­na­tio­nale Tag zur Erinne­rung an die Opfer des Natio­nal­so­zia­lismus begangen. Anlass genug, um das Pilot­pro­jekt „Ewige Zucht­häusler?!“ am Beispiel des ehema­ligen Straf­ge­fäng­nisses Wolfen­büttel der Öffent­lich­keit vorzu­stellen und zu erläutern. „(…) Dass wir noch immer als Zucht­häusler behandelt werden, und das sollen wir nach Meinung deutscher Juristen für alle Ewigkeit sein“, zitierte Martina Staats Alf Pahlow Andresen aus dem Jahr 2003. Der norwe­gi­sche Autor war einmal als Wider­stands­kämpfer Häftling in Wolfen­büttel.

Die Schwie­ger­tochter des ehema­ligen norwe­gi­schen Justiz­ver­ur­teilten, Karika­tu­risten und Wider­stands­kämp­fers Wilfred Jensenius war aus Norwegen angereist und berich­tete über ihre Arbeit mit trauma­tisch geschä­digten Opfern und ihren Angehö­rigen. Und André Charon, Sohn des gleich­na­migen belgi­schen Medizin­stu­denten und Wider­stands­kämp­fers, erinnerte an die gegen­wär­tige Bedrohung durch Rechts­po­pu­listen in Deutsch­land und ganz Europa: „Diese totali­täre Versu­chung ist haupt­säch­lich auf die kollek­tive Ignoranz und Amnesie der Vergan­gen­heit zurück­zu­führen.“ Er sehe nur ein Gegen­mittel, so Charon, Bildung.

André Charon aus Belgien und Grete Refsum aus Norwegen als Angehö­rige von ehema­ligen Häftlingen des Straf­ge­fäng­nisses Wolfen­büttel (von rechts) übergeben Archiv­ma­te­ria­lien an die Gedenk­stät­ten­lei­terin Martina Staats. Foto: Stephan Querfurth

Finan­ziell getragen wird das Pilot­pro­jekt, das sowohl den Anerken­nungs­an­spruch als Opfer des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gewalt­re­gimes als auch Entschä­di­gungs­an­sprüche ehema­liger Opfer oder deren Angehö­riger durch­setzen will und seine Forschungs­ar­beit auch als Bildungs­auf­trag versteht, von der Berliner Stiftung Erinne­rung, Verant­wor­tung, Zukunft (evz) und dem Bundes­mi­nis­te­rium der Finanzen. Die Stiftung unter­stützt Überle­bende natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Verfol­gung und stärkt das Engage­ment ihrer Nachkommen. Sie fördert geschichts­be­wusstes Wissen über NS-Unrecht mit jungen Menschen und setzt sich gegen jede Form von Diskri­mi­nie­rung ein.

Die der Presse­kon­fe­renz aus Berlin zugeschal­tete Vorsit­zende der Stiftung, Andrea Despot, betonte, das Projekt schließe eine Forschungs­lücke, da es „eine Opfer­gruppe beleuchtet, die in der Erinne­rungs­kultur wenig Beachtung findet.“ Die Förder­summe beträgt gut 580.000 Euro. Das Projekt ist bis zum 30. September 2024 befristet.

Das Projekt und seine Recher­che­ar­beiten wird zusammen mit dem Institut für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte und seinen Studie­renden unter Leitung von Thomas Kubetzky sowie Benedict Wydooghe von der belgi­schen Hogeschool „Vives“ in Kortrijk durch­ge­führt. Das Projekt­team wird neben inten­siver Archiv­ar­beit Biografie-Inter­views mit Angehö­rigen der Opfer führen und Nachlässe bearbeiten. Gleich­zeitig werden Studie­rende aus den Bereichen Pädagogik, Soziale Arbeit und Jura in die Bildungs­ar­beit einbe­zogen. Die Gedenk­stätte arbeitet in diesem Bereich eng mit der Bundes­aka­demie für Bildung in Wolfen­büttel zusammen.

 

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Bezahl-Artikel ist zuerst erschienen am 27.1.2023 und erreichbar unter: https://www.braunschweiger-zeitung.de/wolfenbuettel/article237482659/Pilotprojekt-in-Wolfenbuettel-ueber-Verurteilte-der-NS-Justiz.html

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