Braun­schweiger Joshua Groß für Leipziger Buchpreis nominiert

Joshua Groß gilt als großes literarisches Talent. Foto: Charlotte Krusche

Joshua Groß gilt als litera­ri­sches Talent. Soeben wurde er für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Ein „alter Bekannter“, etablierte Autorinnen, Entde­ckungen – die Nominie­rungen für den Preis der Leipziger Buchmesse 2023 decken eine große Bandbreite ab. Mit dem Öster­rei­cher Clemens J. Setz („Monde vor der Landung“) nominierte die Jury in der Belle­tristik-Kategorie einen Autor, der den Preis vor zwölf Jahren schon einmal gewonnen hat. Er ist auch Braun­schweiger Raabe-Preis­träger. Auch der in Braun­schweig lebende Autor Joshua Groß („Prana Extrem“) ist auf der Short-List zu finden. Außerdem wurden Ulrike Draesner („Die Verwan­delten“), Angela Steidele („Aufklä­rung. Ein Roman“) und Dinçer Güçyeter („Unser Deutsch­land­mär­chen“) nominiert.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Bezahl­ar­tikel ist zuerst erschienen am 25.3.2023

Die Jury-Vorsit­zende Insa Wilke hob die Vielfalt hervor: „In diesem Jahr haben uns quer durch die Sparten die unter­schied­li­chen Ausdrucks­formen faszi­niert, mit denen einer­seits Geschichte zum Spiegel gegen­wär­tiger Fragen wird und anderer­seits die unmit­tel­bare Gegenwart befragbar und sichtbar wird in ihren Ambiva­lenzen und komplexen Konflikt­lagen“, erklärte sie.

Schon für die Nominie­rung gibt’s 1000 Euro

Der Preis wird am 27. April in Leipzig verliehen. Nach Angaben der Messe hatten diesmal 161 Verlage insgesamt 465 Werke einge­reicht. Der Preis wird in den Katego­rien Belle­tristik, Überset­zung und Sachbuch/Essayistik vergeben. Er ist mit insgesamt 60.000 Euro dotiert – je 15.000 Euro erhalten die Gewin­nerin oder der Gewinner, jede Nominie­rung ist zudem 1000 Euro wert.

Joshua Groß traf BZ-Redakteur Florian Arnold 2021 zum Gespräch. Dank Romanen wie „Flexen in Miami“ gilt der Braun­schweiger Joshua Groß als wichtiger neuer Gegen­warts­autor. Das Faszi­nie­rende an ihm sei, dass er nicht mit dem Denken aufhören könne, hat die Litera­tur­kri­ti­kerin Insa Wilke ihn gepriesen, in ihrer Laudatio zur Verlei­hung des Anna-Seghers-Preises 2019. Und dass es ihm eben dadurch gelinge, der flackernden Unruhe einer multi­me­dialen, allseits vernetzten Gegenwart litera­risch gerecht zu werden. „Endlich Wirklich­keit!“, so Wilke eupho­risch.

Intel­lek­tuell ruheloses Schreiben

Joshua Groß, der seinen Lebens­mit­tel­punkt der Liebe wegen vor zweiein­halb Jahren von Nürnberg nach Braun­schweig verlagert hat, gilt als großes litera­ri­sches Talent. Gerade erst 33, hat er bereits einige Romane, Erzäh­lungen und Essays veröf­fent­licht und diverse Preise einge­heimst. Tatsäch­lich hat sein Schreiben etwas intel­lek­tuell Atem- und Ruheloses. Es ist klug, auch sinnlich, atmosphä­risch dicht gewebt, überwach – und irrlich­ternd. Wie die Figuren in seinem Roman „Flexen in Miami“.

Der Ich-Erzähler, ein Mittzwan­ziger, der wie der Autor Joshua heißt, hat ein Stipen­dium einer ominösen Stiftung erhalten, die ihn in einem Appar­te­ment in Miami via Drohne mit Nahrung und Barmit­teln versorgt, aber auch überwacht. In der schwülen Hitze Floridas kann sich der feinner­vige Held nicht aufs Schreiben konzen­trieren, lässt sich treiben, schließt wechselnde Bekannt­schaften, driftet in virtuelle Zwischen­räume ab.

Compu­ter­grafik in phospho­res­zie­rendem Lila

Soziale Medien, Video­spiele, Drohnen­bilder – die Grenzen von Realität und virtu­eller Welt, Innenwelt und Außenwelt werden porös, was Groß’ Held in nervöser Eindring­lich­keit beschreibt. „Die Regen­tropfen vermischten sich überall, die Venti­la­tor­luft vermischte sich in meinem Hirn, der Hurrikan vermischte sich mit der geistes­kranken Insta­bi­lität, alles war fragwürdig, nichts konnte damit aufhören, sich zu vermi­schen.“ Die Wahrneh­mung der Umwelt nimmt die intensive Künst­lich­keit von Compu­ter­gra­fiken an: „Der nächt­liche Himmel glomm in phospho­res­zie­rendem Lila wie ein Organismus, der sich auswei­tete und zusam­menzog; und kurz konnte ich ahnen, wie viele Sternen­kriege er beinhalten musste.“

Die futuris­tisch angehauchte Gegenwart erscheint überbe­lichtet hell und zugleich diffus in „Flexen in Miami“. Da ist die Episode, in der der Held ein Basket­ball-Match besucht. Er gerät in den Fokus der Kamera, die Paare für einen Kusswett­be­werb aus dem Publikum heraus­zoomt und die Aufnahmen zugleich ins Internet überträgt. Der Erzähler und seine zuvor eher distan­zierte Nachbarin küssen sich intensiv. Der mediale Erwar­tungs­druck erzeugt Realität, die doch etwas Eigenes behaupten will: „Ich sah mich in Großauf­nahme, wie ich Claire küsste, umrahmt von einem künst­li­chen Herzen, ein bisschen neben der Spur vielleicht, aber ich hatte nichts davon vorge­geben, stellte ich erleich­tert fest, sondern war der Welt gegenüber aufrichtig gewesen. Ich hätte es mir nicht verzeihen können, fake zu sein.“

Angeödet, an der kranken Gegenwart zu leiden

Gefangen in der Perspek­tive des Ich-Erzählers gerät man in den Sog eines Gedanken- und Erfah­rungs­rau­sches, der von ständigem Unwohl­sein unter­füt­tert ist. Das Gefühl des hilflosen Anschwim­mens gegen unter­grün­dige Strömungen, die uns lenken, aber ungreifbar bleiben, ist charak­te­ris­tisch für das Erleben von Groß’ Figuren. Sie leiden, amüsieren, berau­schen und analy­sieren sich bis zur Selbst­auf­lö­sung, der nervöse Litera­tur­sti­pen­diat Joshua, die Border­line-Meeres­bio­login Claire und der genia­lisch-verspon­nene Rapper Jellyfish P.

Im Grunde geht es dabei um das richtige Leben im falschen. „Man ist angeödet davon, an einer kranken Gegenwart zu leiden, und gleich­zeitig so überfor­dert, dass man nicht weiß, was man ihr entge­gen­setzen soll“, sagt Groß. Als Beispiel nennt er etwa das dauernde Nutzen der Kommu­ni­ka­ti­ons­platt­formen undurch­schau­barer Inter­net­kon­zerne, wohlwis­send, dass man dafür mit der Preisgabe persön­li­cher Daten bezahlt, die deren Macht- und Sugges­ti­ons­po­ten­zial weiter steigern. In die Irre führend und doch fast unaus­weich­lich scheint ihm auch der technisch verstärkte Hang zur Selbst­dar­stel­lung. „Wenn Menschen sich fortwäh­rend selbst performen, kann dabei nur ein Rauschen entstehen.“

Kritik an Lingustik-Profes­soren

Den Eindruck, dass Denken und Handeln ausein­an­der­klaffen, ist Groß auch an der Uni Nürnberg nicht losge­worden, wo er Politik­wis­sen­schaft, Ökonomie und Ethik der Textkul­turen studierte. In lingu­is­ti­schen Seminaren hätten Profes­soren „unlebbare Thesen über die Sprache disku­tiert, ohne auch nur einmal die Ambition oder Notwen­dig­keit auszu­drü­cken, ihre sugges­tiven Schluss­fol­ge­rungen in ihrem eigenen Sprach­ver­halten oder ihrer eigenen Lebens­weise umzusetzen“, wie es in Groß’ Buch „Entkommen“ heißt, das im März 2021 ebenfalls im renom­mierten Verlag Matthes & Seitz erschienen ist.

Mehr unver­stellte Wahrheit habe er in US-Raptexten gefunden, die bei ihm als Schüler die Faszi­na­tion für Sprache und Lyrik geweckt hätten, erzählt Groß. Aller­dings verharre Rap oft in der Selbst­dar­stel­lung, ihm fehlten narrative Struk­turen, die über das eigene Ego hinaus­wiesen. An Literatur fessele ihn aber gerade die Möglich­keit, „sich Alter­na­tiv­zu­stände vorzu­stellen, Figuren, ein Setting, Motiva­tionen. Erst durch das Handeln verschie­dener Figuren kann sich eine Geschichte entwi­ckeln.“

Detail­rei­ches Gegen­warts­mo­saik

Aller­dings unter­mi­niert Groß die Kohärenz seiner Geschi­chen durch die Überfülle an Reflexion. Sein Ideal sei es, „Denken und Erzählen zusam­men­zu­bringen“, sagt er. Doch die essay­is­ti­sche Tendenz erzeugt Flieh­kräfte, die zu einem episo­dischen, fragmen­ta­ri­schen Stil führen. In „Entkommen“ treibt der junge Autor das ins Extrem. Ständig wechselnde Haupt­per­sonen und Erzähl­per­spek­tiven erzeugen ein Gegen­warts­mo­saik mit brillanten Facetten, das sich aber nicht zu einem nachvoll­zieh­baren Gesamt­bild runden will. Im Detail ist das packend, im Ganzen aber anstren­gend zu lesen.

Groß ist nicht bereit, Kompro­misse zu machen. Er wolle nichts schreiben, was sich für ihn „nicht richtig anfühlt“, sagt der präzise formu­lie­rende Wuschel­kopf im Video­ge­spräch. Jenseits von Stipen­dien und Litera­tur­preisen hat er sein Geld in Nürnberg einige Jahre als Mitar­beiter des Instituts für moderne Kunst verdient. Er moderierte Lesungen, schrieb für Kataloge.

Bei der Heraus­gabe des Essay­bands „Mindstate Malibu“, der um die Selbst­dar­stel­lung in sozialen Medien kreist, lernte er die Braun­schweiger Autorin Lisa Krusche (30) kennen, die im vergan­genen Jahr durch ihre Teilnahme am Klagen­furter Bachmann-Wettbe­werb bekannt wurde (Groß selbst war bereits 2018 einge­laden). Aus der Arbeits- wurde eine Liebes­be­zie­hung; Groß zog schließ­lich ins kiezige westliche Braun­schweiger Ringge­biet. Nun will er hier als freier Schrift­steller leben und arbeiten. Das intel­lek­tu­elle Potenzial dazu hat er allemal.

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