Die Schuld­frage – ein deutsches Phänomen

Ein Gespräch mit dem austra­li­schen Histo­riker Chris­to­pher Clark am Rande des Besuchs der Ausstel­lung „1914 – Schreck­lich kriege­ri­sche Zeiten“ im Braun­schwei­gi­schen Landes­mu­seum.

Herr Professor Clark, Ihr Buch „Die Schlaf­wandler“ hat hohe Wellen geschlagen, und es ist ein Bestseller. Als Sie mit der Recherche begannen, haben Sie sich vorstellen können, dass das Thema tatsäch­lich so viele Menschen noch 100 Jahre nach den Ereig­nissen in seinen Bann ziehen könnte?

Überhaupt nicht. Niemand, niemand stellt sich so etwas vor. Das kann man nicht planen. Der Verlag hat auch nicht damit gerechnet. Es gab anfangs keine Extra-Auflagen. Es herrschte die Meinung, der Erste Weltkrieg wäre in Deutsch­land weitge­hend vergessen, durch das Trauma des Zweiten Weltkriegs verdrängt und verschüttet worden. Also insofern war der Erfolg eine große Überra­schung.

Sie schreiben die Verant­wort­lich­keiten für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs neu. Das polari­siert und ist inter­es­sant. Sie nehmen Deutsch­land einen Teil der Schuld. Macht diese These den Erfolg aus?

Das ist sicher­lich mit ein Aspekt. Wobei ich überhaupt nicht darauf hinaus wollte, den Deutschen einen Freispruch zu erteilen. Ich finde nach wie vor, dass es nichts gibt in der deutschen Außen­po­litik von 1914, auf das man stolz zurück­bli­cken könnte. Darum ging es überhaupt nicht. Ich wollte das Ganze, das Inter­na­tio­nale, das Vernetzte dieses Ereig­nisses hervor­heben. Es ging eben nicht nur um die Handlungen eines Staates, sondern um die Inter­ak­tionen zwischen vielen Staaten.

Wäre 1914 mit etwas Beson­nen­heit agiert worden, wäre dann der Welt das große Leid des 20. Jahrhun­dert erspart geblieben?

Meines Erachtens ist dieser Erste Weltkrieg der schlech­teste mögliche Ausgangs­punkt für die Moderne des 20. Jahrhun­derts. Das ist, wie schon Fritz Stern gesagt hat, das Desaster aus dem die ganzen Desaster des 20. Jahrhun­derts heraus­ge­sprungen sind. Ohne diesen Krieg kann man sich den wirklich katastro­phalen Kurs dieses Jahrhun­derts kaum vorstellen. Stali­nismus, Natio­nal­so­zi­al­so­zia­lismus, Holocaust, Faschismus in Italien – das alles wäre ohne diesen Krieg schwer vorzu­stellen und wäre schwer zu erklären.

Sie erfahren in Deutsch­land durchaus Kritik für ihr Relati­vieren der deutschen Kriegs­schuld. Wie steht es mit der Kritik in Frank­reich, in Russland, in Nationen, die Sie stärker belasten als das die bisherige Geschichts­schrei­bung tat.

Das Inter­es­sante ist, dass man eigent­lich nur in Deutsch­land sehr auf die Schuld­frage fokus­siert ist. Das ist in Deutsch­land immer noch ein Politikum. Frank­reich geht viel souve­räner mit dieser Frage nach Schuld um. Das ist in der franzö­si­schen Öffent­lich­keit überhaupt nicht angeeckt, dass die Franzosen sozusagen stärker ins Bild gerückt werden. Man nimmt das dort gerne hin und sieht das als die europäi­sche Betrach­tung eines europäi­schen Ereig­nisses. Das ist natürlich in Deutsch­land ganz anders. Da fokus­siert man noch stark auf die Schuld­frage, das zeigen die Reaktionen auf das Buch und die daraus resul­tie­rende Debatte.

Mindes­tens in den deutschen Geschichts­bü­chern ist die Schuld­frage relativ klar definiert. Müssen wir sie umschreiben?

Ich finde, man muss nicht unbedingt abrücken von dem Bild, das Fritz Fischer schon in den 60er und 70er Jahren gezeichnet hat. Er hat ein Psycho­gramm der deutschen Eliten gezeichnet, das auch heute noch beunru­hi­gend ist. Sehr viel an Belli­zismus, Paranoia, Angst um die Zukunft, aber auch Aggres­si­vität, der Wunsch oder der Wille nach einem präven­tiven Krieg – das alles besteht doch noch. Aller­dings muss die Ereig­nisse fester im europäi­schen Kontext einrahmen und sehen, dass dieser große Krieg – im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg übrigens – in einer sehr komplexen Welt durch Inter­ak­tionen zwischen verschie­denen Großmächten, die alle bereit waren den großen Krieg zu riskieren, um ihre eigenen Inter­essen zu reali­sieren, seine Ursache hatte. Die Komple­xität dieser Kriegs­ent­ste­hung gilt es nun besser in unser Verständnis dieser Vergan­gen­heit einzu­ar­beiten.

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