In Braun­schweig droht eine Hunger­ka­ta­strophe

Blick durch Trümmer auf die kriegsbeschädigte Andreaskirche. Foto: Archiv Eckhard Schimpf.
Blick durch Trümmer auf die kriegsbeschädigte Andreaskirche. Foto: Archiv Eckhard Schimpf.

75 Jahre Kriegs­ende, Folge 3: Schon in den frühen Morgen­stunden stehen Frauen und Kinder und alte Leute blass und dürftig gekleidet stunden­lang und oft vergeb­lich vor den Läden.

Flücht­lings­elend, Hunger und Wohnungs­zwangs­be­wirt­schaf­tung kennzeich­neten die Situation nach Beendi­gung des Zweiten Weltkrieges in Braun­schweig in beson­derem Maße. Besonders einschnei­dend war jedoch die Tatsache, dass Braun­schweig am 1. November 1946 mit der Gründung des Landes Nieder­sachsen seine Rolle und Bedeutung als Landes­haupt­stadt verlor und nur noch Hauptsitz eines nieder­säch­si­schen Verwal­tungs­be­zirks war.

Vor 75 Jahren endeten der Zweite Weltkrieg und damit auch das faschis­ti­sche Terror­re­gime der Natio­nal­so­zia­listen. Die Alliierten hatten Deutsch­land befreit, in Braun­schweig waren die Ameri­kaner bereits am 12. April 1945 einmar­schiert. An dieses Ereignis erinnerte „Der Löwe – das Portal für das Braun­schwei­gi­sche“ ausführ­lich (www.der-loewe.info/12-april-1945-der-tag-der-befreiung). In dieser Serie „Braun­schwei­gi­sche Geschichte(n) Spezial: 75 Jahre Kriegs­ende“ geht es um die Zeit danach, um den demokra­ti­schen Neuanfang.

SPD gewinnt erste Wahlen

Das wirtschaft­liche, kultu­relle und alltäg­liche Leben in Stadt und Region Braun-schweig suchte nach einer neuen Stand­ort­be­stim­mung. Die Stadt musste sich mit der verän­derten Rolle vertraut machen, nicht mehr Landes­haupt­stadt und dennoch für die Region ein Oberzen­trum mit zukunfts­ori­en­tierter Weichen­stel­lung und mit Vorbild­cha­rakter zu sein. Aus den ersten demokra­ti­schen Wahlen nach dem Zweiten Weltkrieg zur Stadt­ver­tre­tung war im Rahmen der Kreis­wahlen vom 13. Oktober 1946 die SPD mit absoluter Mehrheit als Sieger hervor­ge­gangen.

Magistrat und Oberbür­ger­meister Dr. Ernst Böhme hatten eine kommunal-politi­sche Aufgabe übernommen, die sich einer Not- und Krisen­si­tua­tion von gewal­tigen Ausmaßen gegen­übersah. Und die Not in der Stadt dauerte schon länger an: Hochwasser 1946, winter­liche Strom- und Kohlen­krise 1947 und Anfang April kam es wegen der Lebens­mit­tel­knapp­heit zu Protesten und sogar Ausschrei­tungen gegen die Militär­re­gie­rung. Die Stadt­re­gie­rung konnte nur mühsam den Notstand verwalten, der sich durch zerstörte Wohnungen, Arbeits­platz­mangel und die Flut der eintref­fenden Ostflücht­linge als drama­tisch erwies. Am 15. Januar 1947 fand die erste außer­or­dent­liche Stadt­ver­tre­ter­ver­samm­lung statt und einziger Tages­ord­nungs­punkt war die Notlage der Braun­schweiger Bevöl­ke­rung.

Kranke können nicht versorgt werden

Der Verwal­tungs­be­richt lässt die ganze Dramatik der Zeit erahnen: „Schon ist tiefe Unruhe einge­treten wegen der Brotver­sor­gung. Die Stimmung gleicht einer Panik. Das Erliegen weiterer Betriebe erhöht die Gefahr des Eintritts einer Hunger­ka­ta­strophe. Die Kinder haben keine oder unzuläng­liche Schuhe. Die Kranken können zum Teil nicht versorgt werden. Schon haben die Straf­an­stalten die Gefan­genen entlassen. Die Krimi­na­lität steigt. Getrieben von Not und Elend zeigen sich Auflö­sungs­er­schei­nungen, wie sie noch nie dagewesen sind. Hungernde Famili­en­väter, unter­ernährte Mütter und Kinder holen sich Kohle, Holz, Gemüse usw., wo sie es nur bekommen. Völlig unzuläng­lich ist die Energie­ver­sor­gung. Bei all der Not und all dem Elend kann die hungernde und frierende Bevöl­ke­rung nicht einmal in einer hellen Stube sitzen. Die Ernäh­rungs- und Wirtschafts­lage, insbe­son­dere auch auf dem Gebiet der Kleidung, ist so, dass ein Teil der Bevöl­ke­rung voller Empörung, der andere völlig apathisch ist. Schon in den frühen Morgen­stunden stehen Frauen und Kinder und alte Leute, blass und verhun­gert, dürftig gekleidet, stunden­lang vor den Läden, um dann oftmals enttäuscht, ohne beliefert zu werden, wieder nach Hause gehen zu müssen. Der Zusam­men­bruch in der Kartof­fel­ver­sor­gung hat die Not erhöht“.

Hilferuf an die Alliierten

Der Beschluss der Versamm­lung endete mit einem drama­ti­schen Appell, der die Situation unmiss­ver­ständ­lich klar machte: „Die Stadt­ver­wal­tung hat alles getan, um Krise und Katastrophe aufzu­halten. Sie sieht sich jetzt nicht mehr imstande, der Katastrophe weiter entge­gen­zu­treten, weil ihr einfach die Möglich­keit fehlt. Im Namen der Mensch­lich­keit richten wir deshalb Bitte und Hilferuf an die Alliierten, sich der Erkenntnis der tiefsten Not des deutschen Volkes und der Katastrophe, die die Welt erfassen könnte, nicht zu versagen. Wird nicht sofort und unmit­telbar geholfen, ist es zu spät“.

Und die Bevöl­ke­rung? Nun, sie betete: „Lieber Jesus, sei unser Gast,/ aber nur, wenn Du Marken hast./Wenn Du keine hast, bleib fern,/ denn wir essen selber gern“.

Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte und Geschichts­ver­mitt­lung an der TU Braun­schweig.

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