Kubels Warnung an die Welt

Alfred Kubel war im Jahr 1946 Ministerpräsident des Freistaates Braunschweig. Foto: Archiv IBR .
Alfred Kubel war im Jahr 1946 Ministerpräsident des Freistaates Braunschweig. Foto: Archiv IBR.

75 Jahre Kriegs­ende, Folge 4: „Aus sieben Gramm Fett lässt sich keine deutsche Demokratie aufbauen.“

Das Ende der tradi­tio­nellen Struk­turen des Landes Braun­schweig bezeich­nete der britische Group Captain Hicks in der Schluss­sit­zung des Braun­schwei­gi­schen Landtags am 23. November 1946 als Beginn der wirkli­chen Demokratie. Der Braun­schwei­gi­sche Landtag hatte in den neun ordent­li­chen und vier außer­or­dent­li­chen Sitzungen sowie zahlrei­chen Ausschuss­be­ra­tungen seiner neunmo­na­tigen Existenz aller­dings ein gewal­tiges Pensum erledigt. Haupt­themen der Beratungen und der beglei­tenden Presse­be­richt­erstat­tung machten die Notsi­tua­tion der Bevöl­ke­rung deutlich.

Vor 75 Jahren endeten der Zweite Weltkrieg und damit auch das faschis­ti­sche Terror­re­gime der Natio­nal­so­zia­listen. Die Alliierten hatten Deutsch­land befreit, in Braun­schweig waren die Ameri­kaner bereits am 12. April 1945 einmar­schiert. An dieses Ereignis erinnerte „Der Löwe – das Portal für das Braun­schwei­gi­sche“ ausführ­lich (www.der-loewe.info/12-april-1945-der-tag-der-befreiung). In dieser Serie „Braun­schwei­gi­sche Geschichte(n) Spezial: 75 Jahre Kriegs­ende“ geht es um die Zeit danach, um den demokra­ti­schen Neuanfang.

Waren­hor­tung und Schwarz­handel

Der Braun­schwei­gi­sche Landtag beriet unter anderem über die katastro­phale Versor­gungs­lage der Bevöl­ke­rung. In einem drama­ti­schen Appell richtete Minis­ter­prä­si­dent Alfred Kubel damals die Warnung an die Welt, dass sich auf sieben Gramm Fett keine deutsche Demokratie aufbauen lasse. Weitere Themen waren die Waren­hor­tung und der Schwarz­handel, die Wohnraum­be­schaf­fung sowie die bessere Versor­gung der Flücht­linge, obwohl das nach Einschät­zung des Landtags eigent­lich die Kräfte des Landes überstieg.

50 Fabriken und Firmen mussten schließen

Erklären ließen sich manche Schwie­rig­keiten, da sich infolge des Zweiten Welt-kriegs die Wirtschafts­struktur der Region Braun­schweig grund­le­gend verän­derte: Der Wirtschafts­raum Braun­schweig war durch die Grenzlage von wichtigen Absatz- und Produk­ti­ons­märkten im Osten abgetrennt. Besonders betroffen waren die Indus­trien der Nahrungs- und Genuss­mittel, die Obst, Gemüse und Saatgut aus dem mittel­deut­schen Raum bezogen und östlich der Elbe ihre Haupt­ab­satz­ge­biete gehabt hatten. Auch der Anlagenbau als Zulie­fer­un­ter­nehmen für die Nahrungs- und Genuss­mit­tel­in­dus­trie erlebte enorme Einbußen.

Dies führte unter anderem zur Schlie­ßung von mehr als 50 Konser­ven­fa­briken und Zulie­fer­firmen und es fielen alle Arbeits­plätze weg. Hinzu kamen in den ersten Nachkriegs­jahren die Zerstö­rungen der Indus­trie­an­lagen; so waren alleine in der Stadt Braun­schweig 50 Prozent der Anlagen ganz oder stark zerstört. Trotz Rohstoff- und Kohlen­man­gels konnten viele Unter­nehmen dennoch sofort nach Kriegs­ende ihre Produk­tion zumindest einge­schränkt wieder aufnehmen.

Demon­ta­ge­liste der Alliierten

Unter­nehmen wie die Büssing N.A.G. Flugmo­to­ren­werke GmbH in Querum, die Firma Karges-Hammer, die Luther-Werke und die Stahl­werke Braun­schweig in Waten­stedt-Salzgitter standen dagegen als ehemalige Rüstungs­be­triebe auf der Demon­ta­ge­liste der Alliierten. Die Reichs­werke AG in Waten­stedt-Salzgitter stand an der Spitze der für die Demon­tagen freige­ge­benen „überzäh­ligen Anlagen“ und zehn der zwölf Hochöfen sollten demon­tiert werden. Damit verbunden war ein starker Anstieg der Arbeits­lo­sen­zahlen im Salzgit­ter­ge­biet.

Als im Frühjahr 1950 die weitere Infra­struktur des Werks zerstört werden sollte, was die Möglich­keit eines Wieder­auf­baus gänzlich unmöglich gemacht hätte, kam es zu Unruhen, Protesten und Massen­de­mons­tra­tionen in der Bevöl­ke­rung. Hatten viele Indus­trie­be­triebe in den Nachkriegs­jahren noch unter Demon­tagen und Produk­ti­ons­aus­fall zu leiden, konnte der zweite Großkon­zern in der Region, das Volks­wa­gen­werk in Wolfsburg, ohne Unter­bre­chung produ­zieren. Im Mai 1945 wurde die von den Nazis gegrün­dete „Stadt des KDF-Wagens“ durch eine Stadt­ver­ord­ne­ten­ver­samm­lung der Alliierten in „Wolfsburg“ umbenannt.

Großraum Braun­schweig wächst

Wesent­lich für die beson­deren Schwie­rig­keiten auch der wirtschaft­li­chen Entwick­lungen in der Region Braun­schweig wurde die Tatsache, dass im Großraum Braun­schweig 1939 noch rund 690.000 Menschen lebten und diese Zahl 1946 aufgrund der Evaku­ie­rung und der Flücht­lings- und Vertrie­be­nen­ströme auf etwa 990.000, anstieg, also um etwa 43 Prozent. Erst die Währungs­re­form vom 21. Juni 1948 machte grund­sätz­lich der Mangel­wirt­schaft und dem Waren­tausch ein Ende und allmäh­lich norma­li­sierten sich die Verhält­nisse.

Doch das Problem der Preis­stei­ge­rungen und die weiter wachsende Not insbe­son­dere bei der Arbei­ter­schaft blieben längere Zeit ein Sorgen­kind der Stadt­ver­wal­tung, aber auch der Landes­re­gie­rung. Noch gab es zahlreiche Hunger­de­mons­tra­tionen oder besser gesagt Proteste gegen die hohen Preise und weitere Preis­er­hö­hungen bei anhal­tendem Lohnstopp. Nur allmäh­lich besserten sich die Verhält­nisse. Braun­schweig hatte bald wieder 205.000 Einwohner. Um dem immer noch steigenden Zustrom von Flücht­lingen aus dem Osten zu begegnen, hatte die Verwal­tung schließ­lich ein Stadt­flücht­lingsamt einge­richtet. Der Weg zum Struk­tur­wandel und zum Wieder­aufbau hatte mit aller Macht einge­setzt.

Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel ist Gründungs­di­rektor des Instituts für Braun­schwei­gi­sche Regio­nal­ge­schichte und Geschichts­ver­mitt­lung an der TU Braun­schweig.

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