Seit 850 Jahren schnur­ge­rade: die Fallers­le­ber­straße

Blick von Westen in die Fallersleberstraße, um 1900. Foto: Stadtarchiv Braunschweig

Verschwun­dene Kostbar­keiten, Folge 27: Der Straßen­name fand schon im Jahr 1239 Erwähnung als „Vallers­le­ver­strate“.
Der Name der Fallers­le­ber­straße muss nicht weiter erklärt werden: Es handelt sich um die Ausfall­straße, die den Kern der Löwen­stadt in nordöst­liche Richtung verlässt. Erster größerer Zielort war das alte Fallers­leben, das heute Teil der Stadt Wolfsburg ist. Die kleine Stadt ist durch einen großen Namen bekannt geworden – dort wurde 1798 August Heinrich Hoffmann von Fallers­leben, der Dichter des Deutsch­land­liedes, geboren. Der Straßen­name fand schon im Jahr 1239 Erwähnung als „Vallers­le­ver­strate“.

Der schnur­ge­rade Verlauf der Fallers­le­ber­straße dokumen­tiert die planmä­ßige Anlage des Weich­bildes Hagen bereits zur Zeit Heinrichs des Löwen um 1160. Auch die Breite dieses Straßen­zuges wirkte bereits vor den Zerstö­rungen des Zweiten Weltkrieges ganz und gar nicht „mittel­al­ter­lich“. Er bildet mit dem Steinweg eine der beiden West-Ost-Achsen dieser Teilstadt, wobei der Fallers­le­ber­straße eine verkehrs­mäßig wichti­gere Bedeutung zukam (und kommt): Sie mündet direkt auf dem Hagen­markt und findet ihre Fortset­zung nach Westen über Hagen­brücke und Lange Straße in Richtung Petritor. Im Mittel­ab­schnitt kreuzt der Straßen­ver­lauf die heutige Wilhelm­straße, den einstigen Wenden­graben. Dort verlief bis zur 1830 erfolgten Unter­tun­ne­lung ein offener Graben, der von der syste­ma­ti­schen Entwäs­se­rung des tiefge­le­genen Weich­bildes seit dem 12. Jahrhun­dert zeugte.

Einst Sitz der Stadt­werke

Fallers­le­ber­straße 8, Diele, um 1930. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Als dominanter Straßenzug verfügte die Fallers­le­ber­straße über eine große Zahl bedeu­tender histo­ri­scher Bürger­häuser in Stein und Fachwerk. Allen voran ist hier das mächtige Patri­zi­er­haus Fallers­le­ber­straße 8 / Ecke Wilhelm­straße zu nennen. Das Bierbaum­sche Haus war nach der Kaufmanns­fa­milie Bierbaum benannt, die das Gebäude von 1752 bis 1925 besaß. Von 1925 bis zur Zerstö­rung 1944 diente das Baudenkmal als Sitz der Stadt­werke Braun­schweig – ein Beispiel für das bereits damals vorhan­dene Bewusst­sein für eine angemes­sene Nutzung histo­ri­scher Bauwerke. Das große Steinhaus erhielt seine prägende Gestalt mit Stufen­gie­beln, Auslucht (Stand­erker) und Vorhang­bo­gen­fens­tern im Jahr 1523. Von einem Kernbau aus dem 13. Jahrhun­dert kündete bis zuletzt noch ein zweitei­liges Säulen­fenster in der Giebel­front. Das Anwesen war immer in den Händen führender Familien im Weichbild Hagen. So gehörte es 1374 Hans Eckermann, der in die damaligen inner­städ­ti­schen Unruhen („Große Schicht“) verwi­ckelt war. In der späten Renais­sance­zeit war es im Besitz derer von Schulen­burg, woran das großar­tige Epitaph des Georg von der Schulen­burg aus dem Jahr 1619 in der Katha­ri­nen­kirche erinnert. Außer­or­dent­lich reizvoll waren die große Kaufmanns­diele und der maleri­sche Hof.

Ein weiteres großes Bürger­haus war Fallers­le­ber­straße 38 mit massivem Unterbau und Fachwerkstock sowie seitli­cher Kemenate. Das im Kern wohl mittel­al­ter­liche Haus erhielt seinen Fachwerk­aufbau im späten 16. Jahrhun­dert.

Nieder­säch­si­sche Holzbau­kunst

Fallers­le­ber­straße 19, um 1900. Foto: Nieders. Landesamt f. Denkmal­pflege

Wie im alten Braun­schweig üblich bestand der Großteil der histo­ri­schen Bebauung des Straßen­zuges aus traufen­stän­digen Fachwerk­bauten. Es waren wiederum sämtliche Epochen nieder­säch­si­scher Holzbau­kunst präsent. Die ältesten Häuser gaben sich mit stark vorkra­genden Stock­werken und Treppen­fries­ver­zie­rungen an den Schwell­balken zu erkennen. Auch hier gab es statt­liche Exemplare, wie die Beispiele Fallers­le­ber­straße Nr. 7 und Nr. 35 bewiesen. Bemer­kens­wert war das Fachwerk­haus Fallers­le­ber­straße 19. Das hoch aufra­gende Bauwerk mit Zwischen­ge­schoss, zwei auskra­genden Stock­werken und seitli­chem Zwerch­haus mit Aufzug­vor­rich­tung für die Beschi­ckung der Speicher­ge­schosse stammte von 1686. Damit war es nach der Eroberung der Stadt durch herzog­liche Truppen im Jahr 1671 entstanden und gehörte somit zu den wenigen Häusern aus einer Phase geringer Bautä­tig­keit. Es war zudem das letzte nachweis­bare Beispiel für ein klassi­sches Braun­schweiger Stadt­die­len­haus mit vorkra­genden Speicher­stö­cken und Schnit­ze­reien. In der folgenden barocken Stilepoche entstanden elegante Häuser wie Fallers­le­ber­straße 4. Nun galten Symmetrie und wohlaus­ge­wo­gene Propor­tionen. Einziger Schmuck dieses Hauses war die wunder­volle Rokoko-Haustür.

Heute herrscht beliebige Lange­weile

Wie in allen wichtigen Straßen­zügen der Innen­stadt entstanden während des Baubooms der Gründer­jahre nach 1871 auch in der Fallers­le­ber­straße mehrere reprä­sen­ta­tive Neubauten im Stil des Histo­rismus. Heute sind weder von diesen Gebäuden, geschweige denn von den älteren Bauwerken auch nur Reste erhalten geblieben. Die Verwüs­tungen durch den Bomben­krieg waren hier wie in der gesamten Nordhälfte der Innen­stadt nahezu total. Leider besei­tigte man nach 1945 auch die noch vorhan­denen Umfas­sungs­mauern des Hauses Fallers­le­ber­straße 8. Das Bierbaum­sche Haus könnte heute ein histo­ri­scher Anker­punkt in einem von belie­biger Lange­weile gekenn­zeich­neten Stadt­quar­tier sein …

Elmar Arnhold ist Bauhis­to­riker (Gebautes Erbe) und Stadt­teil­hei­mat­pfleger. Auf Instagram @elmararnhold veröf­fent­licht er regel­mäßig Beiträge zu histo­ri­schen Bauten in Braun­schweig.

 

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