Sozialer Aufstieg ist möglich

Andreas Kämper, Tobias Henkel, Prof. Holger Ziegler und Norbert Velten präsentierten die Broschüre „Chancen erkennen, neue Wege gehen“ im Haus der Braunschweigischen Stiftungen. Foto: Der Löwe
Andreas Kämper, Tobias Henkel, Prof. Holger Ziegler und Norbert Velten präsentierten die Broschüre „Chancen erkennen, neue Wege gehen“ im Haus der Braunschweigischen Stiftungen. Foto: Der Löwe

Neue Studie „Wirksame Wege für Familien mit geringem Einkommen – Teil II.“ zeigt Möglich­keiten, wie Hilfe besser organi­siert werden kann.

Über einen fast zehnjäh­rigen Zeitraum haben sich 44 Prozent der befragten Familien im Braun­schweiger Land aus der akuten Armut befreien können. Für sie hat sich objektiv und subjektiv die Lebens­qua­lität verbes­sert. Weiteren 20 Prozent gelang sogar der Aufstieg in die Mittel­schicht. Sozialer Aufstieg ist möglich. Das ist ein Ergebnis der Langzeit­studie „Wirksame Wege für Familien mit geringem Einkommen – Teil II.“, die die Univer­sität Bielefeld und die Gesell­schaft für Organi­sa­tion und Entschei­dung (Bielefeld) im Auftrag der Diakonie im Braun­schweiger Land gGmbH in Koope­ra­tion mit der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz erstellt haben. Was sich auf den ersten Blick wie ein schöner Erfolg liest, ist es jedoch nur bedingt. Denn für 22 Prozent gab es auch bis jetzt keinerlei Verbes­se­rungen.

Weiter sozial­po­li­ti­scher Bedarf

Grund­sätz­lich gilt, dass sich die Situation der einkom­mens­schwa­chen Familien verbes­sert hat, dennoch gibt es weiter sozial­po­li­ti­schen Bedarf für die schwächsten in der Gesell­schaft. Die Proble­matik ist aber nicht vom Tisch und wird sich wohl durch die Corona-Pandemie wieder verschärfen. 2018 kamen immerhin 72 Prozent der Haushalte mit ihrem Famili­en­ein­kommen aus, 2009 waren es dagegen nur 34 Prozent. Die wichtigsten Ergeb­nisse der Studie sind in der Broschüre „Chancen erkennen, neue Wege gehen – Wie lässt sich die Situation von Familien mit geringem Einkommen im Braun­schweiger Land verbes­sern?“ gebündelt. Sie ist im Haus der Braun­schwei­gi­schen Stiftungen erhält­lich. Komplett abrufbar ist die Studie im Internet unter www.diakonie-im-braunschweiger-land.de/studie- wirksame-wege-gestalten.de.

Mehr Dynamik erwartet

Die Ausgangs­studie von 2009 hatte die Lebens­um­stände von einkom­mens­schwa­chen Familien mit Kindern unter­sucht, die mittler­weile jedoch oft aus dem Haus seien und so den Familien mehr wirtschaft­li­chen Spielraum ließen, wie Prof. Holger Ziegler (Univer­sität Bielefeld) erläutert. „Wir hätten angesichts der gesamt­wirt­schaft­li­chen Entwick­lung in unserem Land eigent­lich mehr Dynamik erwartet“, führt er weiter aus. In der Ursprungs­studie waren 311 Familien in der Region befragt worden. Für die jetzt vorge­legte Nachfol­ge­studie waren es 50 Familien, die sich bereit­erklärt hatten, die Fragen in einem erneuten persön­li­chen Gespräch zu beant­worten. Die Inter­views dauerten bis zu drei Stunden.

Die Studie wirft mehr als nur ein Schlag­licht auf Armut; sie ist als Regio­nal­studie sehr konkret; sie steigt tief ins Detail, in die Lebens­wirk­lich­keit von Menschen in prekären Situa­tionen; sie räumt auf mit Vorur­teilen gegenüber Familien mit geringem Einkommen; sie zeigt teilweise weitrei­chende Handlungs­emp­feh­lungen auf; und sie besitzt in ihrer Methode ein Allein­stel­lungs­merkmal: Im Gegensatz zu häufig durch­ge­führten Querschnitts­stu­dien zeigt sie keine Moment­auf­nahme, sondern eine Entwick­lung auf. Zusätz­lich wurden neben den Eltern die mittler­weile volljäh­rigen Kinder befragt, um heraus­zu­finden, welche Auswir­kungen Kinder­armut auf ihr Leben hatte.

Einfluss auf künftige Strategie

Die Ergeb­nisse würden ihre zukünf­tige Strategie beein­flussen, versi­cherten Norbert Velten, Vorstand der Diakonie Stiftung im Braun­schweiger Land, und Tobias Henkel, Direktor der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz. „Die Studie ist ein erneuter Anlass, die bestehenden Hilfe­an­ge­bote auf ihre Wirksam­keit zu überprüfen. Wir müssen die Erkennt­nisse nutzen, um mit den Kommunen und mit den weiteren Wohlfahrts­ver­bänden in der Region konkret ins Gespräch zu kommen“, erklärte Velten. Henkel ergänzte: „Die Studie hat gezeigt, dass wir nicht gänzlich auf dem falschen Weg sind. Jetzt müssen wir anhand der Ergeb­nisse überlegen, wo und wie wir am besten fördern können. Die Studie hat über die Region hinaus Relevanz. Klischees müssen aus den Köpfen.“

„Betrof­fene selbst in ausführ­li­chen Inter­views zu Wort kommen zu lassen, hat abseits von sonst häufig erfol­genden stereo­typen Zuschrei­bungen und Mutma­ßungen in der Studie teils überra­schende Erkennt­nisse zu Tage gefördert. Wie haben die mittler­weile erwach­senen Kinder das Heran­wachsen unter den gegebenen Bedin­gungen erlebt?“, schreibt Ulrich Markurth, Präsident der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz und Oberbür­ger­meister der Stadt Braun­schweig, in seinem Grußwort.

Mehr Gebor­gen­heit

Die Antwort ist im Vergleich zu einer Kontroll­gruppe aus jungen Erwach­senen der Mittel­schicht erfreu­lich: Famili­en­zu­sam­men­halt und Gebor­gen­heit (24 zu 20 Prozent) waren das Beste an Bedin­gungen, unter denen die befragten Volljäh­rigen aufge­wachsen sind. Für die Kinder aus einkom­mens­schwa­chen Familien war das also noch stärker ausge­prägt als bei Kindern aus wohlha­ben­deren Familien. Wie oft wird stereotyp die Gebor­gen­heit in armen Familien in Frage gestellt?

Hohe Motiva­tion

Dreizehn der 21 befragten jungen Erwach­senen gaben an, dass sie in einer einkom­mens­armen Familie aufge­wachsen sind; die Eltern waren zu ihrer Schulzeit auf Sozial­leis­tungen angewiesen. Zwölf von ihnen sagten, dass sie motiviert sind, die erlebte Einkom­mens­armut in ihrem Eltern­haus zu überwinden, um sich selbst und später den eigenen Kindern ein besseres Leben zu ermög­li­chen, heißt es in der Studie.

Dass sie in einer einkom­mens­schwa­chen Familie aufwuchsen, wurde den Befragten rückbli­ckend im Alter von zehn Jahren bewusst. Sie bemerkten zu diesem Zeitpunkt, dass es Klassen­ka­me­raden besser ging. Vorwürfe für die belas­tenden Umstände machten die jungen Erwach­senen ihren Eltern nicht. Statt­dessen gaben sie daraus resul­tie­rende positive Aspekte für ihre persön­liche Entwick­lung an. Fünf studieren bereits, zwei stehen vor dem Studi­en­be­ginn, sechs befinden sich in der Ausbil­dung, vier stehen schon im Beruf und vier gehen noch zur Schule.

Zuerst beim Handy sparen

Erstaun­lich ist, was Akteure in Ämtern, Insti­tu­tionen und Stiftungen denken, wo einkom­mens­schwache Familien als Letztes sparen würden: beim Kauf eines neuen Handys und von Alkohol. Tatsäch­lich sehen die einkom­mens­schwa­chen Familien aber ihr Sparpo­ten­tial gerade in dieser Reihen­folge beim Handy, beim Kauf von Zeitungen, beim Urlaub, beim Kauf neuer Kleidung und beim Alkohol. Laut der Studie sparen einkom­mens­schwache Haushalte nicht nur bei der Anschaf­fung neuer Handys (88,9 Prozent), sondern auch bei Besuchen von Kinos, Restau­rants und Sport­ver­an­stal­tungen (85,7 Prozent) oder beim Kauf neuer Kleidung (76,9 Prozent). Wenig Einkommen bedeutet auch wenig Lebens­qua­lität. Deswegen plädieren die Autoren der Studie unter anderem für einen höheren Mindest­lohn.

In der Wahrneh­mung der Akteure und der Selbst­ein­schät­zung der betrof­fenen Familien liegt also eine erheb­liche Diskre­panz, die auch dazu führt, dass Hilfs­an­ge­bote nicht wahrge­nommen werden. Als Haupt­gründe, warum bestehende Hilfs­an­ge­bote nicht genutzt werden sind Angst (58,5 Prozent) und Scham (56,6 Prozent). Schwierig sei es insbe­son­dere, Betrof­fene zu erreichen, die den größten Bedarf hätten.

Probleme mit Behörden

Ein Fazit der Studie: „Um Unter­stüt­zung bei der Bewäl­ti­gung ihrer unter­schied­li­chen, aber zusam­men­hän­genden Einzel­pro­bleme zu erhalten, müssen Betrof­fene in der Regel gleich­zeitig mit mehreren Akteuren des Hilfe­sys­tems in Kontakt treten. Das stellt eine große Hürde dar: 37 Prozent der befragten Haushalte berichten von dauerhaft bestehenden Problemen mit „Ämtern und Behörden“. Zum einen gilt es zu verhin­dern, dass sich das System zunehmend von den Hilfe­su­chenden entfernt, indem Akteure neben­ein­ander her und nicht aufein­ander abgestimmt arbeiten. Zum anderen erfordert die beschrie­bene Situation der Haushalte, dass die Akteure ihre Wahrneh­mung und Haltung verändern. Dies Hilfe soll sich in Hilfen und Angeboten wider­spie­geln, die nicht isoliert, sondern inter­dis­zi­plinär erbracht werden. Dafür sind alle Betei­ligten innerhalb des Hilfe­sys­tems gefordert: Eine Verän­de­rung der aktuellen Struk­turen und der Aufbau eines lebens­la­gen­be­zo­genen Hilfe­sys­tems sind dringend notwendig.“

Als Handlungs­emp­feh­lungen schlug Andreas Kämper von der Gesell­schaft für Organi­sa­tion und Entschei­dung beispiels­weise vor in den Kommunen Sozial‑, Gesund­heits- und Jugend­ämter zusam­men­zu­legen und quartiers­be­zo­gene Dienst­leis­tungs­zen­tren einzu­richten. „Die Hemmschwelle, Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen, muss spürbar gesenkt werden“, sagte er.

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