Braun­schweig: Smarten Maschinen unter die „Motor­haube“ geschaut

Dass Maschinen immer mehr können, was uns Menschen vorbehalten war, macht die Faszination, aber auch die Unheimlichkeit künstlicher Intelligenz aus. Die Menschenform mancher Roboter verleite uns aber auch zu Fehlschlüssen und einer Überschätzung der Technik, erklärte der Robotik-Experte Jochen Steil. (Symbolbild) Foto: Possessed Photography/Unsplash

Abt-Jerusalem-Preis­trä­gerin Katharina Zweig erklärt, warum es keine gute Idee ist, Schüler von künst­li­cher Intel­li­genz bewerten zu lassen.

Aus Science Fiction sind längst Science Fakten geworden – so brachte der Präsident der Braun­schwei­gi­schen Wissen­schaft­li­chen Gesell­schaft, Otto Richter, den Stand der Technik bei digitaler Trans­for­ma­tion und künst­li­cher Intel­li­genz (KI) auf eine griffige Formel: Computer treffen immer mehr Entschei­dungen, die bisher uns Menschen vorbe­halten waren, und sie „lernen“ mensch­liche Fähig­keiten – ob beim Erkennen von Sprache, beim Navigieren durch den Straßen­ver­kehr oder beim Empfehlen von Büchern oder Video­clips.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 25.06.2022 (Bezahl-Artikel)

Je mehr Compu­ter­soft­ware unser gesell­schaft­li­ches Leben prägt, umso dringender müssen wir dem Mitein­ander von Mensch und Maschine auf die Spur kommen. Dies ist seit Jahren das wissen­schaft­liche Programm von Katharina Zweig. Für ihre Arbeit erhielt die Infor­ma­tik­pro­fes­sorin der Techni­schen Univer­sität Kaisers­lau­tern am Freitag­abend den Braun­schweiger Abt-Jerusalem-Preis. Vor der feier­li­chen Übergabe in der Kloster­kirche Riddags­hausen widmeten sich die Preis­trä­gerin und Forscher­kol­le­ginnen und ‑Kollegen in einer kleinen Tagung dem „Menschen­bild der künst­li­chen Intel­li­genz“.

In allen Vorträgen wurde deutlich, dass es „das“ Menschen­bild der KI freilich nicht gibt. „Wir müssen der jewei­ligen Technik schon unter die Motor­haube gucken“, sagte die Infor­ma­ti­kerin Zweig. Welche Erwar­tungen hat ein Algorithmus an unser Verhalten? Was setzt das Compu­ter­pro­gramm voraus? Welche unserer Schwächen oder Defizite sollen durch die Technik ausge­gli­chen werden? Wenn man sich eine Überset­zungs­soft­ware anschaut kommen dabei ganz andere Antworten zutage als bei einem Programm, das etwa bei die Zuteilung von Weiter­bil­dungs­maß­nahmen an Arbeits­lose helfen soll. Die entschei­dende Frage lautet aber: Wie sieht der bestmög­liche Umgang mit solchen Systemen künst­li­cher Intel­li­genz aus – und wann ist es vielleicht besser, auf eine bestimmte digitale Anwendung zu verzichten?

Macht KI Lehrer überflüssig?

Um diese Fragen an einem Beispiel zu erörtern, nahm sich Zweig den „E‑Rater“ vor, ein bereits vor rund 20 Jahren entwi­ckeltes Compu­ter­pro­gramm, das kurze Essays von Sprach­schü­lern mit Zensuren benotet. Wie die Infor­ma­ti­kerin berich­tete, ergab eine Studie, dass die Software bei fast allen Aufsätzen, mit denen sie gefüttert wurde, zu einem ähnlichen Ergebnis kam wie mensch­liche Prüfer. „Fast alle Noten wurden von dem Programm mit einer maximalen Abwei­chung von einer Note korrekt vorher­ge­sagt“, erklärte sie das fast schon unheim­liche Ergebnis. Macht diese Software also eine Bewertung durch mensch­liche Lehrer überflüssig?

Zweigs „Blick unter die Motor­haube“ zeigt, dass das mitnichten der Fall ist. Statt zu bewerten, wie gut die Schüler das Gelernte mit ihrer Lektüre verknüpfen konnten, wie relevant, korrekt oder kohärent ihre Argumente waren – Zweig: „Wie sollte eine Maschine das leisten?“ – analy­sierte die Software lediglich die Wortwahl und die Häufig­keit komplex aufge­bauter Sätze. „Wenn ein Sprach­schüler sehr gut ist, hat er einen größeren Wortschatz und traut sich eher mal, einen Satz mit Konjunktiv zu bilden“, erklärt sie die erstaun­lich große Schnitt­menge der Bewer­tungs­er­geb­nisse.

„Bei der Software werden lediglich Symptome gemessen, nicht jedoch die tatsäch­li­chen Kompe­tenzen der Schüler, um die es geht.“

Dies bedeute aber auch: „Bei der Software werden lediglich Symptome gemessen, nicht jedoch die tatsäch­li­chen Kompe­tenzen der Schüler, um die es geht.“ Als Beweis hierfür zeigt sie einen kurzen Text, der vom E‑Rater ebenfalls die Bestnote erhielt: Ein absoluter Nonsense-Absatz – aller­dings mit anspruchs­vollen Satzkon­struk­tionen und gespickt mit Fremd­wör­tern.

Das Beispiel zeigt: Die Fähigkeit des Computers, Benotungen vorher­zu­sagen, ist etwas völlig Anderes als die mensch­liche Kompetenz, die Essays wirklich zu bewerten. Und letztere ist auch aus anderem Grund nicht einfach zu ersetzen, wie Zweig erklärt: Eine Benotung ist ein sozialer „Sprechakt“ – eine sprach­liche Äußerung, die laut dem briti­schen Philo­so­phen John Lang­shaw Austin „Fakten schaffe“. Dazu gehöre aber viel mehr als eine korrekte Vorher­sage. Im Fall der Benotung sind dies etwa: Akzeptanz der Zensur durch den Schüler, ein trans­pa­rentes Verfahren, die Begründ­bar­keit der Bewertung seitens der Schule oder das Vertrauen in die Bewertung durch Dritte – also etwa durch Firmen, die aufgrund der Note ihre Bewerber einstellen.

Zieht ein neues „Zeitalter der Geistes- und Sozial­wis­sen­schaften“ auf?

Bis KI-Systeme sinnvoll einge­setzt werden können, um den Menschen bei „Sprech­akten“ – also etwa auch behörd­li­chen Entschei­dungen, Eheschlie­ßungen oder Schiffstaufen – zu ersetzen, müssen noch gewich­tige Fragen geklärt werden. Die Infor­matik allein ist damit aus Zweigs Sicht überfor­dert. Sie sieht sogar ein neues „Zeitalter der Geistes- und Sozial­wis­sen­schaften“ am Horizont herauf­ziehen. Nur wenn diese Diszi­plinen zentrale Fragen beant­wor­teten, könne die Digita­li­sie­rung letztlich „fruchtbar gemacht“ werden, betont sie.

Passend dazu waren die weiteren Referenten beim Braun­schweiger Kollo­quium ausge­wählt – neben dem Robotik-Professor Jochen Steil von der TU Braun­schweig waren dies der katho­li­sche Theologe Lukas Brand aus Bochum sowie die Philo­so­phin Prof. Karen Joisten, die wie Zweig in Kaisers­lau­tern lehrt.

Logo Braunschweiger ZeitungDieser Artikel ist zuerst erschienen am 25.06.2022 und erreichbar unter: https://www.braunschweiger-zeitung.de/region/article235719407/Braunschweig-Smarten-Maschinen-unter-die-Motorhaube-geschaut.html (Bezahl-Artikel)

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