7,50 Schilling wurden zum Verhängnis

Braunschweigs Oberbürgermeister Ernst Böhme wird von Angehörigen der SS-Hilfspolizei am 25. März 1933 gewaltsam durch die Stadt ins SS-Haftlokal gebracht, dort gefoltert und zum Amtsverzicht gezwungen. Foto: Braunschweigisches Landesmuseum/Screenshot Katalog
Braunschweigs Oberbürgermeister Ernst Böhme wird von Angehörigen der SS-Hilfspolizei am 25. März 1933 gewaltsam durch die Stadt ins SS-Haftlokal gebracht, dort gefoltert und zum Amtsverzicht gezwungen. Foto: Braunschweigisches Landesmuseum/Screenshot Katalog

Ausstel­lung und Katalog  beschäf­tigt sich mit Hitlers Einbür­ge­rung in Braun­schweig und facet­ten­reich mit dem, was folgte: von Lager 21 über das Straf­ge­fängnis in Wolfen­büttel, die zerstörte Synagoge in Seesen, den Stich­kanal Salzgitter bis hin zum Bau der „Stadt des KdF-Wagens“ bei Fallers­leben. 

Die Arbeits­gruppe der Heimat­pfleger in der Braun­schwei­gi­schen Landschaft setzt sich in ihrer aktuellen Ausstel­lung kritisch mit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Vergan­gen­heit im ehema­ligen Land Braun­schweig ausein­ander. Dazu ist erneut ein bemer­kens­werter, reich illus­trierter und 74 Seiten starker Katalog erschienen, der eindrucks­voll von regio­nalen Ereig­nissen erzählt und sie in die Zeit einordnet. „Wir wollen bei den Bürge­rinnen und Bürgern in der Region ein reflek­tiertes Geschichts­be­wusst­sein fördern und die histo­ri­sche Urteils­kraft schärfen“, erläutert Harald Schrae­pler, Sprecher der Arbeits­gruppe, in seinem Vorwort zum Katalog. „Das Braun­schweiger Land im Natio­nal­so­zia­lismus“ wird zunächst bis zum 3. Mai in der Porti­kus­halle des Nieder­säch­si­schen Landtages in Hannover gezeigt. Die Ausstel­lung ist dort werktags von 9 bis 16 Uhr zugäng­lich.

In den folgenden Monaten wird sie durch die Landkreise und Städte des ehema­ligen Braun­schweiger Landes touren. Die Ausstel­lung ist nach „Braun­schwei­gi­sches Land in der Kaiser­zeit 1871–1918“ und „Braun­schwei­gi­sches Land in der Weimarer Republik 1918–1933“ bereits die dritte, die chrono­lo­gisch und öffent­lich­keits­wirksam die jüngere Geschichte des Braun­schwei­gi­schen aufgreift. Die Kataloge greifen die Inhalte der jeweils 32  Ausstel­lungs­ta­feln auf und sind kosten­frei in der Geschäfts­stelle der Braun­schwei­gi­schen Landschaft erhält­lich. Unter­stützt wurde das Projekt von der Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz, VR-Stiftung der Volks­banken und Raiff­ei­sen­banken in Norddeutsch­land und der Volksbank eG, Wolfen­büttel.

Ausstel­lung und Katalog „Das Braun­schweiger Land im Natio­nal­so­zia­lismus“ stellen episo­den­haft regio­nal­ge­schicht­liche Themen in den Fokus. Eine vollstän­dige Dokumen­ta­tion war nicht das Ansinnen. Und gerade das macht den Katalog zu spannend. Er wirft bemer­kens­werte Schlag­lichter, kompakt und infor­mativ. Das inhalt­liche Spektrum reicht von der Einbür­ge­rung Hitlers über die Zwangs­ar­beit im Volks­wagen Werk, die Zerstö­rung der Synagoge in Seesen, den Bau des Stich­ka­nals, das Straf­ge­fängnis in Wolfen­büttel bis hin zu den Luftan­griffen auf Braun­schweig und den letzten Kampf­hand­lungen in Bornum am Elm.

„Der Natio­nal­so­zia­lismus in Deutsch­land zählt mit zu den am besten erforschten Gebieten der Geschichts­wis­sen­schaft. Die meisten Bücher und Fernseh­do­ku­men­ta­tionen befassen sich jedoch nur mit den großen politi­schen und Gesell­schaft­li­chen zusam­men­hängen. Es entsteht schnell der Eindruck, der Natio­nal­so­zia­lismus habe nur weit entfernt, in Berlin oder Nürnberg, statt­ge­funden. Vielen Menschen, besonders den jüngeren, fehlt die Verknüp­fung zwischen dem Geschehen im ´Dritten Reich´ und ihrer eigenen Heimat“, lobt Ernst Gruber, Sprecher des Vorstandes Volksbank eG Wolfen­büttel, die Initia­tive der AG Heimat­pfleger.

Das Verhängnis nahm zunächst in Braun­schweig seinen Lauf. „Hitler sollte nach seiner Haft in Landsberg nach Öster­reich abgeschoben werden. Der Abschie­bung entzog er sich durch den Antrag auf Entlas­sung aus der öster­rei­chi­schen Staats­bür­ger­schaft, die ihm bereit­willig am 30. April 1925 gegen eine Gebühr von 7,50 Schilling gewährt wurde. Er konnte nicht mehr abgeschoben werden, hatte sich aber ein neues Problem einge­han­delt. Staaten­lo­sig­keit war mit dem Anspruch als Führer nicht vereinbar und behin­derte seine Karriere, da er weder das aktive noch das passive Wahlrecht besaß. Diverse Einbür­ge­rungs­ver­suche in Bayern waren geschei­tert. Das Gesetz sah aller­dings vor, dass ein Ausländer (oder Staaten­loser) nicht nur auf dem Antragsweg, sondern auch über die Verbe­am­tung in einem der deutschen Länder einge­bür­gert werden konnte“, heißt es in dem Beitrag „Hitlers Einbür­ge­rung im Jahre 1932“.

Und weiter: „Ein Jahr lang, vom Februar 1932 bis Februar 1933, war Hitler Beamter des Freistaats Braun­schweig. Am 25. Februar 1932 wurde er gegen 18 Uhr durch die Regierung Küchen­thal (DNVP) und Klagges (NSDAP) ohne Laufbahn­vor­aus­set­zung zum Regie­rungsrat im Landes­kultur- und Vermes­sungsamt ernannt und zugleich an die Braun­schwei­gi­sche Gesandt­schaft beim Reichsrat in Berlin abgeordnet und dort mit der Wahrneh­mung Braun­schweiger Wirtschafts­in­ter­essen betraut. Am 24. Februar 1933 wurde er als Reichs­kanzler wieder aus dem braun­schwei­gi­schen Staats­dienst entlassen.“

Diese Episode war für Hitlers politi­sche Karriere von entschei­dender und liefert eine wesent­liche Erklärung, warum das Braun­schweiger Land von Wolfsburg bis Salzgitter in den Jahren der NS-Herrschaft eine außer­or­dent­liche Moder­ni­sie­rung erfahren habe, heißt es im Katalog.

Ein düsteres Kapitel wird unter dem Titel „Auslän­der­kinder in Pflege­heimen“ geschrieben. Der Beitrag beginnt so: „Unter den Zwangs­ar­bei­te­rinnen aus Polen und der ehema­ligen Sowjet­union waren einige bereits bei ihrer Ankunft schwanger. Trotz aller Straf­maß­nahmen konnten sexuelle Kontakte nie ganz unter­bunden werden, zumal neben Liebes­be­zie­hungen auch sexuelle Gewalt oder auch Hunger­pro­sti­tu­tion zu Schwan­ger­schaften führten. Bis Ende 1942 wurden schwan­gere Frauen in ihre Heimat zurück­ge­schickt. Danach wollte das NS-Regime keine Arbeits­kräfte mehr verlieren und ließ entweder Zwangs­ab­trei­bungen durch­führen oder trennte die Mütter nach der Nieder­kunft von ihren Kindern, um sie rasch wieder an die Arbeit zu bringen. Anfangs durften Mutter und Kind noch sechs bis acht Wochen  zusam­men­bleiben, später nur noch zwei Wochen oder 10 Tage.“

Die Schre­ckens­herr­schaft betraf jedoch früh auch die deutsche Arbei­ter­be­we­gung. Mit deren Zerschla­gung beschäf­tigt sich ein weiteres Kapitel: „Syste­ma­tisch wurden SPD-Abgeord­nete auf der Straße verhaftet. SS-Leute stürmten das Volks­freun­de­haus in Braun­schweig. Angehö­rige der Gewerk­schaft und Angestellte wurden zusam­men­ge­trieben und brutal verprü­gelt. Möbel, Unter­lagen, sowie Fahnen und Bücher wurden auf einem Haufen vor dem Gebäude verbrannt…Im Juni 1933 wurden Razzien und Verhaf­tungen im Arbei­ter­viertel im Eichtal in Braun­schweig von der SS (Schutz­staffel) und Hilfs­po­li­zisten durch­ge­führt. Dabei wurden willkür­lich angetrof­fene Arbeiter verhaftet. Als Begrün­dung wurde der Tod eines SS-Mannes vorge­schoben, den seine eigenen Leute erschossen hatten. Die Verhaf­teten wurden in das AOK-Gebäude gebracht und brutal gefoltert. Zehn  Arbeiter wurden brutal hinge­richtet, was später als Massen­mord vom Rieseberg bekannt wurde.“

Alle 24 Beiträge dokumen­tieren Ereig­nisse, Pläne und Schick­sale im düstersten Kapitel deutscher Geschichte. 1945 hatte der Spuk endlich ein Ende. „In herrli­chem Sonnen­schein, der den Widersinn der militä­ri­schen Ereig­nisse, die Verblen­dung mensch­li­chen Verhal­tens kontras­tierte, näherten sich die ameri­ka­ni­schen Panzer­spitzen am 12. April dem Gebiet des Landkreises Helmstedt“, beginnt der Aufsatz über das Kriegs­ende in Helmstedt. Die Lektüre des Katalogs lohnt sich.

Beiträge für die Ausstel­lung  und den Katalog schrieben: Rolf Ahlers, Dr. Jens Binner,Dr. Claudia Böhler, Dr. Joachim Frassl, Marcel Glaser, Dr. Manfred Grieger, Markus Gröch­tem­eier, Manfred Gruner, Johannes Heinen, Birgit Hoffmann, Dr. Hilko Linnemann, Prof. Dr. Ulrich Menzel, Wulf Otte, Rolf Owczarski,Martina Staats, Maria Schlelein, Harald Schrae­pler, Bernhard Schroeter, Dr. Mathias Seeliger, Dieter Trapp, Björn Walter, Hartmut Wegner, Reinhard Wetterau und Ursula Wolff. Rudolf Zehfuß zeichnete für die Redaktion verant­wort­lich.

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