Die Weimarer Republik vor der Haustür

Postbote und Einwohner in Engelnstedt, 1928. Aus: Ortschaft Nord“ in alten Ansichten, Salzgitter 1994, S.87. Screenschot aus dem Katalog
Postbote und Einwohner in Engelnstedt, 1928. Aus: Ortschaft Nord“ in alten Ansichten, Salzgitter 1994, S.87. Screenschot aus dem Katalog

Ausstel­lungs­ka­talog der Arbeits­ge­mein­schaft Heimat­pfleger beschäf­tigt sich in  33 Episoden von ernst bis amüsant mit der Zeit zwischen 1918 und 1933.

Die Weimarer Republik war für den größten Teil der Bevöl­ke­rung von Armut und Zukunfts­ängsten geprägt. Die Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg mit drama­ti­scher Inflation, Massen­ar­beits­lo­sig­keit und Weltwirt­schafts­krise waren schwer und mündeten schließ­lich im verhee­renden Natio­nal­so­zia­lismus. Wie lebte es sich damals im Braun­schwei­gi­schen? Über diese Frage gibt der von der Arbeits­gruppe Heimat­pfleger in der Braun­schwei­gi­schen Landschaft heraus­ge­ge­bene Ausstel­lungs­ka­talog „Braun­schwei­gi­sches Land in der Weimarer Republik“ Aufschluss. Die 72-seitige Broschüre ist kostenlos in der Braun­schwei­gi­schen Landschaft erhält­lich.

„Die Zeit brachte den nicht einfachen Übergang von der Monarchie in die Demokratie und am Ende den zur Diktatur des Natio­nal­so­zia­lismus. Die Beiträge in dem, Katalog greifen unter­schied­liche Themen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Archi­tektur, Infra­struktur und Gesell­schaft auf. Sie beziehen sich alle auf die Gebiete des Freistaates Braun­schweig“, erläutert Harald Schrae­pler, Sprecher der Arbeits­gruppe Heimat­pfleger. Der Texte wurden von Heimat­pfle­gern verfasst. Die Redaktion oblag Rudolf Zehfuß. Das Heft  erlaubt spannende Einblicke, die aller­dings nur wenig mit den „Goldenen Zwanzi­gern“ und ausschwei­fendem Lebens­stil tun haben, die aus den Metro­polen überlie­fert sind.

Die Ausstel­lung „Braun­schwei­gi­sches Land in der Weimarer Republik“ (2013) war die zweite nach „Braun­schwei­gi­sches Land im Kaiser­reich“ (Bespre­chung des Katalogs im Löwen Februar 2018). Im April folgt die dritte Ausstel­lung. Sie trägt den Titel „Braun­schwei­gi­sches Land im Natio­nal­so­zia­lismus“. Die Eröffnung der neuen Ausstel­lung findet im Nieder­säch­si­schen Landtag Hannover statt. Im Lauf des Jahres werden die 32 Schau­ta­feln dann an verschie­denen Orten in der Region gezeigt, die sich am Filial­netz des Förder­part­ners Volksbank eG  orien­tieren. Weitere Förderer sind ebenfalls von Anfang an die Stiftung Braun­schwei­gi­scher Kultur­be­sitz und die VR-Stiftung. Die AG Heimat­pfleger, zu der rund 300 Ortshei­mat­pflege gehören, kommt mit dieser Reihe ihrem Auftrag, sich mit der Geschichte des alten Landes Braun­schweig zu beschäf­tigen und die kultu­relle Entwick­lung in der Region zu begleiten und zu fördern, in ausge­zeich­neter Art und Weise nach.

In dem politi­schen Beitrag Wahlen / Wahlpla­kate im Katalog zur Weimarer Republik wird schon auf die neue Ausstel­lung hinge­führt. „Bezeich­nend für die politi­sche Landschaft im Freistaat war der scharfe Gegensatz zwischen dem bürger­lich-konser­va­tiven und dem linken Lager sowie eine Tendenz zur Radika­li­sie­rung“, heißt es da. Voran­ge­stellt ist im Katalog die Liste der Vorsit­zenden des Staats­mi­nis­te­riums im Freistaat Braun­schweig: August Merges, Sepp Oerter, Heinrich Jasper, August Junke, Otto Antrick, Gerhard Marquordt  und Werner Küchen­thal.

Promi­nen­testes Opfer der im Freistaat Braun­schweig schon früh ihr Unwesen treibenden Nazis wurde mit Heinrich Jasper der bedeu­tendste braun­schwei­gi­sche Politiker der Weimarer Zeit. Ihm ist das erste Kapitel gewidmet. Darin heißt es: 1931 trat Dietrich Klagges (NSDAP) seine Schre­ckens­herr­schaft an. Für Heinrich Jasper war es eine unvor­stell­bare Leidens­zeit mit mehrfa­cher Folter, Gefängnis- und KZ-Inhaf­tie­rungen. Den Strapazen war er nicht gewachsen. Er starb am 19. Februar 1945 im KZ Bergen-Belsen.

Der Sozial­de­mo­krat Jasper war Minis­ter­prä­si­dent des Landes Braun­schweig. „Geprägt durch Ideale und Humanität setzte er sich mit großem Engage­ment vor dem 1. Weltkrieg gegen das Dreiklas­sen­wahl­recht und für die Verbes­se­rung der Lebens­be­din­gungen der Arbeiter ein. Nach dem Krieg galten seine Ziele darüber hinaus der Trennung von Staat und Kirche und dem Wider­stand gegen die revolu­tio­nären Aktivi­täten der extremen Linken. Immer wieder setzte er sich für die parla­men­ta­ri­sche Demokratie ein und war offen für Koali­tionen mit den gemäßigten bürger­li­chen Parteien“, wird sein Wirken in dem Beitrag beschrieben.

Natürlich wird die Inflation thema­ti­siert. „Unvor­stell­bare 78 Millionen Mark kostete am 24. September 1923 die Bahnfahrt in der zweiten Klasse von Salzgitter nach Braun­schweig“, steht im Artikel „Inflation und Notgeld der Ilseder Hütte. Und weiter: „Am 11. August 1923 gab die Direktion der Ilseder Hütte im Salzgit­ter­schen Kreis­blatt bekannt, ‘dass zu Lohnzwe­cken für unsere Grube Hanno­ver­sche Treue 500.000- und 100.000 Markscheine‘ in Umlauf gegeben werden.

Der überwie­gende Teil der Wolfen­büt­teler, heißt es im Beitrag „Kritisch beäugt: Der Aufstieg des Automo­bils“, stieg in der Zeit der Weimarer Republik in die „Straßen­ei­sen­bahn”, um von der Herzog­stadt ins benach­barte Braun­schweig zu reisen. In der Haupt­ver­kehrs­zeit fuhr das Schie­nen­fahr­zeug alle 20 Minuten vom Bahnhof Wolfen­büttel über Herzogtor, Sternhaus, Klein Stöckheim, Melverode, Braun­schweig-Augusttor bis zum Hagen­markt. 1928 zählte man knapp eine Million Fahrgäste in nur sechs Monaten. Jahrhun­der­te­lang waren Pferde­kut­schen das Fortbe­we­gungs­mittel Nummer eins gewesen. Nach dem Ersten Weltkrieg eroberte aber nach und nach das Automobil die Straßen der Lessing­stadt und des Landkreises Wolfen­büttel.

Zwar weist die Statistik des Jahres 1921 im gesamten Kreis Wolfen­büttel lediglich 77 Perso­nen­kraft­wagen auf. Offen­sicht­lich hatten unsere Vorfahren, schreibt der Autor weiter, aber große Probleme mit der Beherr­schung der neuen Technik. In nur fünf Monaten zählte die Wolfen­büt­teler Polizei 30 Verkehrs­un­fälle, darunter 15 Sach‑, drei Perso­nen­schäden und sogar ein Todes­opfer. Der Siegeszug des Automo­bils, so belegt der Artikel war dennoch nicht mehr aufzu­halten. Zu Pfingsten 1929 kam es zu einem ersten Stau. Wochenend-Ausflügler verstopften die steile Landstraße zwischen Bad Harzburg und Torfhaus. Gezählt wurden innerhalb von nur zwei Stunden 268 Kraft­fahr­zeuge, 178 Motor­räder und 580 Fahrräder, die sich den Berg herauf­quälten, doch nur noch 34 Fuhrwerke.

Der Katalog greift viele Themen aus dem Braun­schwei­gi­schen auf. Unter anderem gibt es Aufsätze über den Gutsbe­trieb der Grafen von Schulen­burg in Wolfsburg und die Mädchen­pen­sio­nate in Blanken­burg, über die Entste­hung der Stadt­viertel Bebelhof und Siegfried­viertel in Braun­schweig, über das Wasser­werk in Lobmacht­ersen und den Tonfilm in Helmstedt, über den Bau des Mittel­land­ka­nals, die schönsten Vergnü­gungs­lo­kale jener Zeit in Braun­schweig und Kurzpor­träts der vier Braun­schweiger Originale Harfen-Agnes, Rechen-August, Tee-Onkel sowie den Deutschen Herrmann.

Alles in allem ist den Heimat­pfle­gern ein sehr infor­ma­tives Heft über die Zeit der Weimarer Republik im Braun­schwei­gi­schen gelungen. Es ist absolut zu empfehlen. Nicht zuletzt aufgrund der reich­hal­tigen Bebil­de­rung ist ein Blick auf die Weimarer Republik vor unserer Haustür im Braun­schwei­gi­schen möglich.

Die Autoren

Rolf Ahlers, Elmar Arnold, Dr. Claudia Böhler, Werner Cleve, Dr. Sandra Donner, Reinhard Först­erling, Chris­tiane Geldes, Markus Gröch­tem­eier, Manfred Gruner, Birgit Hoffmann, Klaus Hoffmann, Dr. Ralf Holländer, Karl-Heinz Löffel­send, Jürgen Kackstein, Elke Keese, Friedrich Orend, Rolf Owcarzki, Dr. Andreas Reuschel, Dr. Mathias Seeliger, Rolf Siebert, Peter Steckhan, Werner Strauß, Peter Stübig, Hartmut Wegner, Reinhard Wetterau, Dr. Ursula Wolff und Rudolf Zehfuß.

Die Braun­schwei­gi­sche Landschaft

Die Braun­schwei­gi­sche Landschaft e.V. hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1990 das Ziel gesetzt, sich mit der Geschichte des alten Landes Braun­schweig zu beschäf­tigen und zugleich die kultu­relle Entwick­lung in der Region zu begleiten und zu fördern. Zu ihrem Aufga­ben­ge­biet gehören die kreis­freien Städte Braun­schweig, Salzgitter und Wolfsburg sowie die Landkreise Helmstedt, Peine und Wolfen­büttel mit mehr als 180 Vereinen, Verbänden und Gemeinden, die im Beirat zusam­men­ge­fasst sind. Sie bringen ihre Aktivi­täten in zwölf Arbeits­gruppen ein, die Foren zum Wissens- und Erfah­rungs­aus­tausch, zur Gestal­tung unter­schied­li­cher Projekte und deren verant­wort­li­cher Durch­füh­rung sind. Die Braun­schwei­gi­sche Landschaft ist Partner des Inter­net­por­tals der Braun­schwei­gi­schen Stiftungen „Der Löwe“.

Kontakt:

Braun­schwei­gi­sche Landschaft e. V.
Löwenwall 16
38100  Braun­schweig
Tel.: 0531 – 280 19 750 / 751
Email: info@braunschweigischelandschaft.de

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