Ein in Deutsch­land einzig­ar­tiges Wohn- und Geschäfts­haus

Vieweghaus (1800-1804), Fassade zum Burgplatz, rechts Veltheimsche Palais. Foto: Wedemeyer

Gillys Vieweg­hauses in Form eines sehr strengen, ornament­armen Klassi­zismus war eine enorme Neuerung auf dem mittel­al­ter­lich gestimmten Burgplatz.

Als der Berliner Verleger Friedrich Vieweg, Bauherr des Vieweg­hauses und Schwie­ger­sohn des Braun­schweiger Verlegers Johann Heinrich Campe, 1798 seinen Antrag für den Bau eines palais­för­migen Wohn- und Verlags­hauses am promi­nenten Braun­schweiger Burgplatz stellte, traf er auf einen verstän­digen Herzog. Auch Carl Wilhelm Ferdinand hatte sich vor 1800 bemüht, das mittel­al­ter­liche Stadtbild von Braun­schweig durch neue Großbauten zu verschö­nern.

Seit den 1760er Jahren hatten Baumeister wie E.W. Fleischer, E. Horn und G. Langwagen immer wieder klassi­sche Elemente wie zum Beispiel flache Tempel­fronten und Portiken bei ihren Projekten verwendet, aber in eine ornament­reiche, hierar­chisch – barocke Gliede­rung einbe­zogen. Das Vieweg­haus zeigt uns hingegen den neuen Baustil, der damals in Deutsch­land von einigen fortschritt­li­chen Archi­tekten bevorzugt wurde. Zu jenen zählten vor allem die Gillys aus Berlin.

Mit großem Lichthof

In Erman­ge­lung von beweis­kräf­tigen Archi­va­lien wird seit dem späten 19. Jahrhun­dert bis heute das Vieweg­haus stilis­tisch dem Baumeister David Gilly (1748–1808) zugeschrieben. Aber dieser verwirk­lichte wohl eher die Anregungen seines Sohnes Friedrich und leitete vor Ort die Bauar­beiten zwischen 1800 und 1804. So zeigt auch nach seinen Umbauten um 1865 und von 1982 bis 1985 dieses in Deutsch­land einzig­ar­tige Wohn- und Geschäfts­haus aus vier dreige­schos­sigen Gebäu­de­flü­geln auf trapez­för­migem Grundriss mit großem Lichthof eine monumen­tale Gestalt: Gillys Baustil in Form eines sehr strengen, ornament­armen Klassi­zismus. Eine enorme Neuerung auf dem mittel­al­ter­lich gestimmten Burgplatz! (Abb.1)

Friedrich Gilly hatte ihn aus der griechi­schen Antike als dem Ursprung von Archi­tektur unter dem Einfluss der franzö­si­schen „Revolu­ti­ons­ar­chi­tektur“ entwi­ckelt. Wie die Franzosen noch in der Zeit des Königtums inter­es­sierte ihn an der Antike bloß die Gruppie­rung der großen Baumassen aus rein stereo­me­tri­schen Körpern wie z. B. Kubus, Zylinder und Kugel.

Gegen­sätze bestimmen das Bild

Vieweg­haus, Ausschnitt der Fassade zum Burgplatz mit Portikus, Attika und Fenstertür. Foto: Wedemeyer

Gillys Bauge­sin­nung führte am Vieweg­haus zu einer Neube­stim­mung und Umformung alther­ge­brachter Baude­tails wie Wandfläche, Säulen­halle, Keller­so­ckel, Fenster­bank, Tür- und Fenster­sturz, Pfeiler, Attika und Wirtschafts­wege. Gegen­sätze bestimmen das Bild: glatte Wandflä­chen stehen neben kubischen Bauteilen. Gegen­seitig steigern sie ihre Wirkung und werden zu eigen­stän­digen Bauteilen. Jedes wirkt wie das Monument seiner Funktion (Abb.2). Es wird damit zu einem ‚Blick­lenker‘ zwecks genauer Erfassung von Gebäu­de­ausmaß, Mauer­stärke, Stock­werk­an­zahl, Hausein­gängen, Fenster­stand­orten etc. Damit wird auch die Bauauf­gabe ‚Wohnhaus’ am Vieweg­haus insgesamt neu bestimmt. Es genügte eine zeitge­nös­sisch modern anmutende Massen­grup­pie­rung, die fast ohne die klein­tei­ligen, gliedernden Ornamente der voran­ge­henden Jahrhun­derte auskommt.

Der Weg wird insze­niert

Vieweg­haus, Torweg von der Straße „Vor der Burg“ und dem Innenhof, Aufnahme von 1979. Aus: R. Liess, Das Vieweg­haus…, Braun­schweig

Betritt der Besucher das Hausin­nere von der Straße „Vor der Burg“, wird er durch die weit herunter gezogenen Trenn­wände über Halbbögen nach innen geleitet (die für durch­fah­rende Fuhrwerke hoch genug waren). Der Weg wird dem Besucher insze­niert. Er kommt aus dem Licht der Straße, betritt einen dunklen, gewin­kelten Weg und kommt wieder ins Helle des Lichthofs (Abb.3).

Zum Burgplatz hatte Gilly den inneren Torweg entspre­chend zum äußeren Portikus innen mit zwei dorischen Säulen­paaren und schweren Gebälken besetzt, den man durch das gedrückte Halbbo­gen­portal hätte betreten sollen. Das war F. Vieweg dann doch zu wuchtig und ließ die Tür nachträg­lich zusetzen und zum Burgplatz ein aufwen­diges hölzernes Treppen­haus einbauen (bis 1982, Abb. 4; im Nordflügel teils erhalten). Der äußere viersäu­lige Portikus mit schwerer Attika war jetzt der Haupt­ein­gang für Fußgänger; sein optisches Pendant, der zweisäu­lige dorische Portikus an der Ecke Papenstieg/„Vor der Burg“ störte den Straßen­ver­lauf und wurde 1931 abgetragen (Abb.5).

Optisches Gegen­ge­wicht

Die Monumen­ta­lität des Vieweg­hauses prägt auch seine städte­bau­liche Riegel­wir­kung. Beide Flügel (Abb. 6), der Burgplatz­flügel und der links anschlie­ßende an der Straße „Vor der Burg“ mit flachem, übergie­beltem Mittel­ri­salit über starkem Rustika­mau­er­werk neben der sonstigen feinli­nigen Quader­zeich­nung der Erdge­schoss­wände, bilden zusammen auf der westli­chen Burgplatz­seite das optische Gegen­ge­wicht zu Burgpa­last und Blasi­usdom. Damit war der Platz nach Westen großflä­chig geschlossen, und das Burgensemble hatte seine Kastell­wir­kung auf neuzeit­liche Weise wieder erhalten. Die alten Riegel­bauten, das Burgtor, das herzog­liche Panto­mi­men­haus und zwei andere Gebäude waren ja vom diesem überbaut worden.

Vieweg­haus, Gesamt­an­lage mit zwei Fassaden auf der Burgplatz­west­seite. Foto: Wedemeyer

Die kubische und städte­bau­lich einfühl­same Entwurfsart sind das handwerk­liche Signet von Friedrich Gilly. Die älteren Projekte des Vaters David sind eher eine Mischung von Spätba­rock und Frühklas­si­zismus und jüngere, wie das dem Vieweg­haus ähnelnde Amtshaus in Stein­hövel (1799), entstanden wohl schon unter dem Eindruck der Entwürfe des Sohnes.

Denkmal für Friedrich den Großen

Bei der Suche nach Vorgaben in Friedrich Gillys Plänen muss man vor allem an das unaus­ge­führte Denkmal für Friedrich den Großen von 1796 denken. Die Pfeilerhalle am Hang (Abb. 7) als völlig ornament­loser Bau aus bloßen Stützen und Balken findet sich buchstäb­lich als Wandglie­de­rung auf der Papen­stieg­front des Vieweg­hauses wieder (Abb.8.). Auch andere Elemente vom Vieweg­haus wie Portiken, Gebälke und der bogen­über­fan­gene Torweg zur Straße „Vor der Burg“ wurden im Denkmals­ent­wurf beim Eingangsbau vorge­bildet.

Betrachtet man Gebautes von Friedrich Gilly, muss an das große (nicht mehr existente) Wohnhaus in Berlin in der Behrens­straße erinnert werden (Abb. 9). Es gleicht in der Massen­grup­pie­rung der Wohnge­schosse und in vielen verein­fachten Details dem Vieweg­haus, zum Beispiel besonders der Front zu „Vor der Burg“ (Abb.10).

Friedrich Gilly, Haus Behrens­straße 68, um 1799, (abgebro­chen). Aus: Alfred Rietdorf, Gilly, Wieder­ge­burt der Archi­tektur, Berlin 1940

Häuser­zeile mit „Revolu­ti­ons­ar­chi­tektur“

In Braun­schweig regten die Entwürfe der Gillys mehrere Baumeister an. Um 1800 gab H.L. Rother­mund seinen Bauten auf der gegen­über­lie­genden Seite des Vieweg­hauses eine sehr ähnliche Form (Abb. 11). Dadurch besitzt Braun­schweig eine Straßen­zeile jener „Revolu­ti­ons­ar­chi­tektur“, wie sie sonst eigent­lich nur noch in Paris die Rue de Colonnes aufweisen kann.

Vieweg­haus, Fassade an der Straße „Vor der Burg“. Foto: Wedemeyer

Auch P.J. Krahe (1758–1840) entwarf 1806 das Palais am Magnitor für Prinz Friedrich Wilhelm ganz im Sinne des Vieweg­hauses. Der Rohbau des kubischen, abweisend wirkenden Palais wurde nach 1815 abgebro­chen. Auch Krahes Torbauten in Braun­schweig und sein Haus „Salve Hospes“ von 1805 zitiert wie die beiden anderen Lokal­bei­spiele etliches vom Vieweg­haus: den hohen Keller­so­ckel, die bloßen Fenster­ein­schnitte und massigen Gebälke. Aber insgesamt wirkt das Haus „Salve Hospes“ aufgrund der älteren spätba­ro­cken Schulung Krahes ornament­rei­cher, so dass das Massige wie getilgt erscheint.

Ottmer nahm Anleihen von Gilly

Vieweg­haus und gegenüber die stilver­wandte Häuser von H.L Rother­mund. Foto: Wedemeyer

Selbst der jüngere Carl Theodor Ottmer (1800–1843), Schüler Krahes und Braun­schweiger Nachfolger Karl Friedrich Schinkels, setzte Details nach Gillys Entwürfen ein. Ottmer gestal­tete aber nach Bauauf­gabe und Standort eines Bauteils. Gillys geböschte hohe Sockel, die gedrückten Halbbo­gen­fenster, ornament­losen Pfeiler und Gebälke setzte er in Erdnähe und bei nachran­gigen Bauteilen ein. Näher am Betrachter konnten die Baude­tails dann wieder formen­rei­cher ausfallen. Diese sich steigernde, pointierte Gestal­tung kann man sowohl am rekon­stru­ierten Schloss am Mittel­ri­sa­liten und auf den Seiten­flü­geln, am „Alten Bahnhof“ und an der Villa am Wilhel­mi­t­or­wall (von 1841) entdecken.

In Deutsch­land und Frank­reich zählt das Vieweg­haus zu einer sehr kleinen Gruppe erhal­tener Bauten von gleicher Gestal­tung aus der Zeit der „Wieder­ge­burt der Archi­tektur“. Peter Speeths Zuchthaus (1810/26) in Würzburg und einige erhaltene Zollbauten rings um Paris mögen hier als weitere Beispiele genügen.

Dr. Bernd Wedemeyer ist Bau- und Kunst­his­to­riker sowie Autor mehrerer Bücher über das Braun­schweiger Residenz­schloss.

Hier geht es zu Teil 1 der Serie.

Hier geht es zu Teil 3 der Serie.

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