Aus Łódź wurde Litzmann­stadt

Sally Perel berichtet den Schülern, wie er den Nationalsozialismus überlebte. Foto: Neue Oberschule
Sally Perel berichtet den Schülern, wie er den Nationalsozialismus überlebte. Foto: Neue Oberschule

Elftklässler der Neuen Oberschule und ein katho­li­sches Gymnasium aus Łódź erfor­schen mit Hilfe der Gedenk­stätte Schill­straße den Kriegs­an­fang 1939 in ihrer jewei­ligen Heimat­stadt.

Es ist ein Schüler­pro­jekt, wie es nicht alle Tage vorkommt. Unter Feder­füh­rung der Gedenk­stätte Schill­straße in Braun­schweig arbeiten ein Geschichts­kurs der Neuen Oberschule und ein katho­li­sches Gymnasium in Łódź (Polen) seit dem Sommer 2014 am Projekt „Braun­schweig – Łódź 1939“. Bei dem von der Richard Borek Stiftung geför­derten Forschungs­pro­jekt geht es zum Beispiel um Unter­schiede bei der Wahrneh­mung der Kriegs­vor­be­rei­tungen und beim Beginn des Zweiten Weltkrieges in beiden Städten, die rund 700 Kilometer vonein­ander entfernt liegen. Nach gegen­sei­tigen Besuchen präsen­tieren die Braun­schweiger Schüler und Lehrer voraus­sicht­lich Ende Juni ihre Ergeb­nisse. Dies geschieht in Form einer hochwer­tigen Ausstel­lung.

Die Brücke von der Gedenk­stätte Schill­straße / Braun­schweig in das 1939 ganz im Osten Polens gelegene Łódź ist schnell geschlagen: Alle Insassen des Konzen­tra­ti­ons­la­gers Schill­straße, in dem 1944 jüdische Häftlinge unter­ge­bracht waren, um bei der in unmit­tel­barer Nähe gelegenen Firma Büssing Zwangs­ar­beit zu leisten, hätten ursprüng­lich unter menschen­un­wür­digen Bedin­gungen im Ghetto in Litzmann­stadt gelebt, weiß Gustav Partington, Geschichts­lehrer an der Neuen Oberschule. Aus Lodz war Litzmann­stadt geworden, nachdem deutsche Truppen 1939 Polen überfallen hatten. Im dortigen Ghetto wohnten 1940 über 150.000 Juden. Aber auch Sinti und Roma lebten in Łódź im Ghetto. Von Łódź war es für die KZ-Häftlinge zunächst nach Auschwitz gegangen, dort hätten sich Mitar­beiter der Firma Büssing Arbeits­kräfte für die Kriegs­pro­duk­tion in Braun­schweig ausge­sucht, so jeden­falls der Forschungs­stand.

„Wie unter­schied­lich haben sich die Menschen in Braun­schweig und Lodz auf den drohenden Krieg vorbe­reitet? Wie haben sie nach Kriegs­aus­bruch reagiert? Aber auch, wie sind sie mit Minder­heiten anschlie­ßend umgegangen, lauteten die Fragen, die sich die beiden Schüler­gruppen gestellt haben“, berichtet Partington, zugleich stell­ver­tre­tender Vorsit­zender des Arbeits­kreises Andere Geschichte e.V., der mit 13 Schüle­rinnen und Schülern vom 13. bis 18. April 2015 zum Besuch in Łódź war. In der 700.000 Einwohner zählenden und heute aufgrund der Nachkriegs­ge­schichte in der Mitte Polens liegenden Stadt wurde auch die Ausstel­lungs­kon­zep­tion erarbeitet. Dort soll die Ausstel­lung, die mit der aus Braun­schweig identisch ist, im September eröffnet werden. Gustav Partington: „Das war eine sehr arbeits­reiche, aber auch sehr harmo­ni­sche Woche in Polen, bei der viele Freund­schaften entstanden sind.“ Unter­ge­bracht waren die NO-Schüler in Gastfa­mi­lien, eine Schülerin sogar im Kloster­in­ternat der Privat­schule.

Die Schul­lei­tung des Braun­schweiger Gymna­siums hatte dafür gesorgt, dass zum Projekt „Braun­schweig – Łódź 1939“, das im Rahmen von „Europeans for Peace“ statt­findet, extra einen Kurs einge­richtet wurde. 28 hochmo­ti­vierte Elftklässler meldeten sich an. Als Arbeits­grund­lage diente den Braun­schweiger Schüle­rinnen und Schülern eine Arbeits­mappe mit Quellen, Literatur und Hilfs­mittel. Diese hatten die Histo­ri­ke­rinnen Kirsten Julia Bergmann und Sabine Ahrens und der Histo­riker Jonathan Voges erarbeitet.

Ende Oktober 2014 hatten 13 Schüler des Katoli­ckie Gimnazjum i Liceum Ogólnoksz­tałcące im. Jana Pawła II die Stadt Braun­schweig besucht. Einer der Höhepunkte der Arbeits­woche war die Begegnung mit Sally Perel. Dessen Lebens­ge­schichte geht unter die Haut: Der heute 90-Jährige hatte als polni­scher Jude den Natio­nal­so­zia­lismus überlebt, weil er die Identität gewech­selt hatte. Als Josef Peters war der in Peine geborene Perel sogar Mitglied der Hitler­ju­gend (HJ) und arbeitete als Lehrling im so genannten Vorwerk von Volks­wagen in Braun­schweig. Seine Biografie „Hitler­junge Salomon“ ist weltbe­kannt und wurde 1990 verfilmt. Aber auch der Histo­riker Dr. Karl Liedke gab einen Einblick in das Thema Zwangs­ar­beit.

16 Schau­ta­feln werden derzeit von den Schüler­gruppen in Braun­schweig und Łódź erstellt. Die Arbeiten erfolgen autonom. Die Łódź-Schüler haben einen Schwer­punkt in der Zeitzeu­gen­be­fra­gung gelegt. Eine Grafi­kerin aus Polen gestaltet die zweispra­chige Ausstel­lung, die ab Ende Juni in der Gedenk­stätte Schill­straße, die von Frank Ehrhardt, Geschäfts­führer des Arbeits­kreises Andere Geschichte e.V. betreut wird, zu sehen sein wird. „Alle Schüler machen dies alles völlig freiwillig und aus Interesse an der NS-Geschichte“, erklärt Partington. „Für mich ist es wirklich eine Riesen­freude zu sehen, dass alle Betei­ligten so toll mitziehen.“

Weitere Infor­ma­tionen:

www.schillstrasse.de

www.katolik.edu.pl

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