Einer der letzten großen 68er

Film- und Kulturkritiker Georg Seeßlen (Mitte) erhielt den Lessing-Preis aus den Händen von Cord-Friedrich Berghahn, Präsident der Lessing-Akademie. Links Helene Gleitmann für Förderpreisträger Freunde des Tel Aviv Museum of Art Deutschland e.V. Foto: Markus Hörster

Der Film- und Kultur­kri­tiker Georg Seeßlen wurde mit dem Lessing-Preis für Kritik ausge­zeichnet.

„Kritik, die diesen Namen verdient, Kultur, die diesen Namen verdient, ist nie auf der Seite der Macht. Sie ist immer auf der Seite der Menschen“, sagte Film- und Kultur­kri­tiker Georg Seeßlen (Jahrgang 1948) in seiner Dankes­rede, nachdem er mit dem Lessing-Preis für Kritik ausge­zeichnet worden war. Den Preis übergab Cord-Friedrich Berghahn, Präsident der Lessing-Akademie, im Wolfen­büt­teler Lessing­theater.
Mit dem Lessing-Preis wird seit dem Jahr 2000 eine gesell­schaft­lich bedeu­tende, unabhän­gige, risiko­freu­dige kritische Leistung gewürdigt. Der Preis wird alle zwei Jahre verliehen und ist mit insgesamt 20.000 Euro dotiert. Eine Beson­der­heit ist, dass die Preis­träger (15.000 Euro) Förder­preis­träger (5.000 Euro) bestimmen können. Der Förder­preis ging in diesem Jahr auf Vorschlag Seeßlens an das Projekt „THE ART ROAD TO PEACE“ der Freunde des Tel Aviv Museum of Art Deutsch­land e.V..

Das „Prinzip Pop“

Georg Seeßlen. Foto: Markus Hörster

Seeßlen stehe coura­giert für eine umfas­sende Kultur- und Gesell­schafts­kritik ein, in der das „Prinzip Pop“ als selbst­re­fle­xives Medium von Gesell­schaft diene sowie als Wider­haken für populis­ti­sche und kapita­lis­mus­ge­fäl­lige Ambitionen, hieß es seitens der auszeich­nenden Koope­ra­ti­ons­partner Braun­schwei­gi­sche Stiftung, Lessing-Akademie und Stadt Wolfen­büttel.
„Ausgangs­punkt seiner Kritik ist nie dieses vorgän­gige Schon­ver­stan­den­haben, dem man so oft in der intel­lek­tu­ellen Ausein­an­der­set­zung mit dem Populären begegnet. Nein, Ausgangs­punkt ist immer, immer, immer die Analyse, die Ausein­an­der­set­zung mit dem Material“, lobte Laudator Moritz Baßler, Litera­tur­wis­sen­schaftler an der Univer­sität Münster. Baßler sagte, mit Seeßlen werde einer der letzten großen 68er ausge­zeichnet.

Heraus­ra­gender Kritiker

„Mit Georg Seeßlen ehrt die Jury einen heraus­ra­genden Kritiker, dessen Werk geprägt ist von einer facet­ten­rei­chen, kapita­lis­mus­skep­ti­schen Medien- und Kunst­kritik im Sinne einer sensiblen, unauf­dring­li­chen Sezierung der politi­schen Kultur. Stilis­tisch vielfältig und mit argumen­ta­tiver Klarheit wendet sich Seeßlen gegen unlautere Verein­nah­mungen von Kunst und Kultur, indem er die Erzeu­gungs­weisen von Halbwahr­heiten dekon­stru­iert und die Gefähr­dung der Gegen­warts­kunst durch ökono­mi­sche und ideolo­gi­sche Zwänge bis ins Detail aufdeckt“, steht in der Begrün­dung der Jury.
Es gebe aus seiner Sicht, so Seeßlen im Lessing­theater, zwei große Projekte, für die sich alle engagieren sollten, denen an der Demokratie und der liberalen Gesell­schaft gelegen sei: „Erstens eine Neufas­sung für einen histo­ri­schen Kompro­miss aller demokra­ti­schen Kräfte vom demokra­ti­schen Konser­va­tismus bis zum demokra­ti­schen Sozia­lismus gegen den antide­mo­kra­ti­schen Block aus völki­schen, rassis­ti­schen, sexis­ti­schen und autori­tären Bewegungen von rechts. Und zweitens, das, was wir in Anlehnung an die histo­ri­sche Aufklä­rung das Heraus­führen der demokra­ti­schen Zivil­ge­sell­schaft aus der selbst­ver­schul­deten Lähmung nennen könnten.“

Neufas­sung des histo­ri­schen Kompro­misses

Eine Neufas­sung des histo­ri­schen Kompro­misses der Demokra­tinnen und Demokraten bedeute die Neufas­sung der politi­schen Trenn­linie. Es gehe nicht mehr um die Trennung zwischen rechts und links, sondern um die Trennung zwischen demokra­tisch und antide­mo­kra­tisch. Und die Heraus­füh­rung der demokra­ti­schen Zivil­ge­sell­schaft aus der selbst­ver­schul­deten Lähmung bedeute, aus den Graben­kämpfen und den Spaltungs­zwängen heraus­zu­kommen, um wieder an einer gemein­samen Erzählung für eine offene Zukunft zu arbeiten. Diese Erzählung sei nur am Leitfaden der Mitmensch­lich­keit möglich, folgerte Seeßlen.

Laudator Moritz Baßler, Litera­tur­wis­sen­schaftler an der Univer­sität Münster, mit zwei Frühwerken Seeßlens. Foto: Markus Hörster

Die schiere Fülle der Veröf­fent­li­chungen Seeßlens mache fassungslos, sagte Laudator Baßler. „Er will gerade jetzt, im aktuellen Moment, verstanden werden. Er will unbedingt, dass wir dabei mitreden, dafür macht er es ja“, so Baßler weiter. Deswegen müsse Seeßlens Kritik schnell und auf den virulenten Punkt hin geschrieben und idealer­weise auch veröf­fent­licht werden, erklärte Baßler die Schlag­zahl Seeßlens: 2017 erschien sein Buch „Trump! POPulismus als Politik“, 2020 „Corona­kon­trolle – Nach der Krise, vor der Katastrophe“ und 2024 „Chatbots, KI-Bildge­ne­ra­toren und Co. Wie Künst­liche Intel­li­genz Alltag, Kultur und Gesell­schaft verändert“. Und auch die Preis­ver­lei­hung nutzte Seeßlen – wer hätte es anders erwartet? – zu einer treffenden Gesell­schafts­kritik. Er erntete dafür viel Beifall.

Die Jury 2024

Carolin Amlinger (Litera­tur­wis­sen­schaft­lerin und Sozio­login an der Univer­sität Basel), Cord-Friedrich Berghahn (Litera­tur­wis­sen­schaftler an der Techni­schen Univer­sität Braun­schweig, Präsident der Lessing-Akademie sowie des Israel Jakobson Netzwerks), Peter Burschel (Histo­riker an der Georg-August-Univer­sität Göttingen und Direktor der Herzog August Biblio­thek Wolfen­büttel), Annika Reich (Schrift­stel­lerin, Mitgrün­derin und künst­le­ri­sche Leiterin des Aktions­bünd­nisses ‚Wir machen das‘), Dr. Vanessa Reinwand-Weiss (Kultur­wis­sen­schaft­lerin an der Univer­sität Hildes­heim und Direk­torin der Bundes­aka­demie für kultu­relle Bildung Wolfen­büttel), David Schraven (Journa­list und Gründer des Recherche-Netzwerks ‚Correctiv‘).

Fakten

Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781), Biblio­thekar der Herzog August Biblio­thek, war ein bedeu­tender Dichter der Aufklä­rung. In seinen Stücken beschäf­tigt er sich vor allem kritisch mit Themen der Religion und der Toleranz. Seine Werke werden bis heute ununter­bro­chen aufge­führt. Neben Nathan der Weise gehört Emilia Galotti zu seinen bekann­testen Dramen. Es wurde am Herzog­li­chen Opernhaus am Hagen­markt in Braun­schweig 1772 urauf­ge­führt. Lessing starb in Braun­schweig. Sein Grab befindet sich auf dem Magnif­riedhof an der Ottmer­straße.

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